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KARLSTADT
Karlstadt ist jetzt „Fairtrade-Town“
Karlstadt ist „Fairtrade-Town“: Die Freude war groß bei (von links) Heidi Pollin (Steuerungsgruppe), Theo Dittmaier (Zweiter Bürgermeister), Anja Baier (Dritte Bürgermeisterin und Vorsitzende der Steuerungsgruppe), Hannah Rüther (TransFair e.V.), Paul Kruck (Bürgermeister), Eva-Maria Eisele (Weltladen), Rita Scheiner, Kerstin Amersbach und Ellen Berger-Thesen (alle Steuerungsgruppe).
Foto: Jochen Jörg | Karlstadt ist „Fairtrade-Town“: Die Freude war groß bei (von links) Heidi Pollin (Steuerungsgruppe), Theo Dittmaier (Zweiter Bürgermeister), Anja Baier (Dritte Bürgermeisterin und Vorsitzende der ...
Jochen Jörg
 |  aktualisiert: 26.04.2023 22:58 Uhr

Als Paul Kruck noch nicht Bürgermeister von Karlstadt war, sondern bei der Regierung von Unterfranken gearbeitet hat, kam er auf seinem Weg durch Würzburg immer an einem kleinen Geschäft vorbei. „Dritte-Welt-Laden“ stand da über der Eingangstür – ein Name, der heute, etwa 20 Jahre später, so gut wie nirgendwo mehr auftaucht. Ein Geschäft, in dem es Produkte aus fairem Handel gibt, heißt inzwischen „Eine-Welt-Laden“ oder einfach nur „Weltladen“, so wie in Karlstadt.

Paul Kruck findet das gut. „Namen sagen viel aus über die Entwicklung unserer Gesellschaft. Die meisten Menschen haben mittlerweile begriffen, dass wir ,Eine Welt‘ sind“, sagt er. Doch es sind leider nicht alle. „Die Ausbeutung ist immer noch Wirtschaftsprinzip“, sagt Kruck. „Deswegen wollen wir in Karlstadt unseren Teil dazu beitragen, um von diesem System wegzukommen, und andere Strukturen schaffen.“

Der Anfang ist gemacht. Am Mittwoch wurde Karlstadt offiziell zur „Fairtrade-Town“ ernannt, als 309. in Deutschland. Die Urkunde überreichte Hannah Rüther vom Verein TransFair in der Uhrenstube des historischen Rathauses an den Bürgermeister.

In dem Text, der darauf zu lesen ist, heißt es, dass Karlstadt „ein konkretes Zeichen für eine gerechtere Welt“ setze. Zwei Jahre ist der Titel gültig, dann wird TransFair überprüfen, ob die Kriterien (siehe Infokasten) weiterhin erfüllt werden.

Rüther pries das Fairtrade-Konzept als „weltweit bedeutendstes Sozial-Zertifizierungssystem“ an. Es stelle den Menschen in den Mittelpunkt und verhelfe den Rohstofflieferanten aus ärmeren Ländern zu einem selbstbestimmten Leben. „Der faire Handel ist am Wachsen“, sagte Rüther. „Die Stützpfeiler der Bewegung sind die Weltläden.“ Den in Karlstadt hatte sie vor der Auszeichnungsfeier selbst besucht – und war sehr angetan von Angebot und Ambiente.

Gerade mal ein halbes Jahr ist es her, dass der Stadtrat dem Grünen-Antrag, sich um den Titel „Fairtrade-Town“ zu bewerben, mit überwältigender Mehrheit zugestimmt hat. Was seither geschehen ist, zeigte die Steuerungsgruppe, die das Projekt begleitet, am Mittwoch in einem originellen Familiensketch. Ihr Können als Schauspieler zeigten dabei Rita Scheiner (Vater), Kerstin Amersbach (Mutter), Heidi Pollin (Sohn) und Ellen Berger-Thesen (Tochter).

Schauplatz war stets der häusliche Frühstückstisch, das Szenario spielte sich aber an verschiedenen Tagen ab. Wann genau, das zeigte Dritte Bürgermeisterin Anja Baier, die Vorsitzende der Steuerungsgruppe, die sich als „Nummerngirl“ betätigte und das jeweilige Datum hochhielt. Am ersten Tag las der Vater verdutzt in der Main-Post, dass Karlstadt gerne „Fairtrade-Town“ werden möchte. Mit diesem Begriff konnte das Familienoberhaupt herzlich wenig anfangen, genau wie die Mutter und der pubertierende Sohn. Nur die Tochter wusste bescheid, denn sie ging auf die Karlstadter Realschule, die bereits zur „Fairtrade-School“ erhoben wurde.

Je mehr Tage vergingen, umso mehr veränderte sich jedoch die Denkweise der Familie – und damit auch das Bild am Frühstückstisch. Anfangs standen darauf vor allem Sachen vom Discounter, am Ende nur noch Produkte aus fairem Handel. Sogar das Nutella-Glas, ohne das der Sohn normalerweise keinen Morgen überstand, wurde gegen eine Fairtrade-Schokocreme ausgetauscht. Die Familie hatte „fairstanden“, worum es geht.

Dafür, dass sich dieses Bewusstsein „schon von Kindesbeinen an durchsetzt“, will sich Josef Grodel vom Arbeitskreis Karlstadter Schulen stark machen. Er kündigte an, dass das Gymnasium, die Mittelschule und möglicherweise auch die Förderschule ebenfalls den Titel „Fairtrade-School“ anstreben – nach dem Vorbild der Realschule. Hierzu sei ein Aktionstag am 21. Juli geplant.

Eine amüsante Geschichte, die aber auch nachdenklich machte, erzählte Eva-Maria Eisele vom Weltladen. Sie hieß „Die Mausefalle“ und veranschaulichte, wie wichtig es ist, dass nicht jeder nur an sich und seinen eigenen Vorteil denkt.

„Die Ausbeutung ist leider immer noch Wirtschaftsprinzip.“
Paul Kruck Bürgermeister von Karlstadt

Um zu erfahren, wofür das Wort „fair“ steht, hatte Ilse Krämer, die Agenda 21-Koordinatorin im Landkreis Main-Spessart, in einem englisch-deutschen Wörterbuch nachgeblättert. Darin stand als Übersetzung „ehrlich, anständig, gerecht“. Das Buch stammt aus dem Jahr 1956. Es habe also etwas gedauert, bis in den Köpfen der Menschen angekommen sei, was Fairness bedeute, sagte Krämer. Aber: „Umso größer ist die Freude, dass Karlstadt nun als erste Stadt im Landkreis ,Fairtrade-Town‘ wird“.

Dietholf Schröder von der Stadtmarketing GmbH richtete einen Appell an die Schüler und anderen jungen Menschen, die mit dem Internet sozialisiert wurden. Sie sollten nicht nur bei Amazon, Zalando oder anderen Online-Shops einkaufen, sondern das Angebot in Karlstadt und der Region nutzen. „Nur so können die inhabergeführten Geschäfte am Leben erhalten werden“, sagte er.

Bei Benita Eckert, Chiara Gottschalk, Celina Gehrsitz und Tamara Schopf ist diese Botschaft bereits angekommen. Die Realschülerinnen, die im dortigen Fairtrade-Arbeitskreis mitwirken, wollen weiterhin Multiplikatoren in Diensten der Gerechtigkeit sein. An ihrer Schule haben sie damit Erfolg, denn der Arbeitskreis zählt schon 30 Mitglieder.

Bevor TransFair-Botschafterin Rüther die Urkunde übergab, nannte sie noch einige beeindruckende Zahlen: Fast eine Million Tonnen Schokolade wird pro Jahr in Deutschland produziert, „nur“ rund 1000 Tonnen sind fair gehandelt. Doch dieses ungleiche Verhältnis könnte sich schon bald ändern – dank Karlstadter Hilfe.

Auf die Frage, wie viel Schokolade der Durchschnittsdeutsche pro Jahr vertilgt, tippte Bürgermeister Paul Kruck auf 20 Kilo. Knapp die Hälfte, also etwa zehn Kilo, wäre richtig gewesen. Doch Kruck scherzte, sein persönlicher Verbrauch könnte durchaus bei 20 Kilo liegen. „Aber erst, seit es die Karschter Schogglaad gibt“, fügte er lachend hinzu.

Und das ist ja bekanntlich eine faire Schokolade.

Der Weg zur „Fairtrade-Town“

Für den Titel „Fairtrade-Town“ muss eine Kommune fünf Kriterien erfüllen: Kriterium 1: Der Stadtrat muss beschließen, den fairen Handel zu unterstützen. Bei allen öffentlichen Sitzungen müssen fortan fair gehandelter Kaffee und ein weiteres faires Produkt ausgeschenkt werden.

Kriterium 2: Eine Steuerungsgruppe wird gebildet, die auf dem Weg zur „Fairtrade-Town“ die Aktivitäten vor Ort koordiniert. Kriterium 3: In den lokalen Einzelhandelsgeschäften und bei Floristen sowie in Cafés und Restaurants werden mindestens zwei Produkte aus fairem Handel angeboten. Kriterium 4: Produkte aus fairem Handel werden in öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Vereinen und Kirchen verwendet. Zusätzlich finden Bildungsaktivitäten zum Thema statt. Kriterium 5: Die lokalen Medien berichten über die Aktivitäten.

ONLINE-TIPP

Mehr Informationen gibt es im Internet unter www.fairtrade-towns.de

Sketch am Frühstückstisch: (von links) Rita Scheiner (Vater), Anja Baier („Nummerngirl“), Ellen Berger-Thesen (Tochter), Heidi Pollin (Sohn) und Kerstin Amersbach (Mutter).
Foto: Jochen Jörg | Sketch am Frühstückstisch: (von links) Rita Scheiner (Vater), Anja Baier („Nummerngirl“), Ellen Berger-Thesen (Tochter), Heidi Pollin (Sohn) und Kerstin Amersbach (Mutter).
 
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