"Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum" - Für viele Menschen und vor allem für die Chöre mit deutschen Liedern ist das das Volkslied, die Romantik schlechthin. Doch beim zweiten Kammerkonzert im Historischen Rathaus wurden diese Assoziationen gründlich erschüttert. Inhaltlich zumindest, denn musikalisch gesehen war der Liederzyklus "Winterreise" von Franz Schubert ein wahrer Hochgenuss. Hans-Henning Vater zeigte sich meisterhaft auf der Violine, Stefan Adelmann überzeugte am Kontrabass und Bernhard Wünsch brillierte am Klavier. Dazu die facettenreiche Sopranistin Eilika Wünsch trotz leichter stimmlicher Probleme,
"Wir werden Sie fordern!", sagte Bernhard Wünsch Fast klang das schon als Drohung, ebenso wie Schuberts eigene Bemerkung: "Ich werde euch einen Kranz schauerlicher Lieder vorsingen!" Die neuesten musikhistorischen Forschungen gehen heute davon aus, dass die "Winterreise" keine romantische Erzählung, sondern eine Metapher ist, eine Abfolge von versteckten Spitzen gegen die politischen Verhältnisse der Restauration nach dem Wiener Kongress.
Inhaltlich gehen die von Schubert vertonten "Gedichte auf den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten" Wilhelm Müller zurück. Dieser Müller versteckte nach Ansicht von Bernhard Wünsch seine Enttäuschung, seine Auflehnung gegen die Untreue der Regierenden gegen das Volk nach den zahllosen Opfern der Befreiungskriege in scheinbar romantischen Versen, um so die Zensur zu täuschen. Daher stamme auch der Begriff "Das Wandern ist des Müllers List!"
Nach all diesen Informationen, neu für viele der Besucher im Bürgersaal des Historischen Rathauses, erschien natürlich auch das Lied vom Lindenbaum, dem "Superhit der deutschen Volkslieder", in einem differenzierteren Licht. Das lyrische Symbol für Heimat und Geborgenheit zieht den Wanderer an, will ihn festhalten, doch der wendet sich nicht, denn "die kalten Winde bliesen ihm grad ins Angesicht" und die versprochene - oder angedrohte Ruhe - kann auch als Todessehnsucht gesehen werden. Schließlich ist Schubert im Alter von nur 31 Jahren an Syphilis gestorben. Musikalisch interpretierten die vier Künstler eben dieses Lied in betontem, kontrastreichem Wechsel zwischen dem volkstümlichen Charakter, hoffnungsvollen Dur-Passagen und dann wieder bangem Moll insgesamt heftiger und herber, als man es sonst von den Chören kennt.
In vielen der 24 vorgestellten Liedern des Schubert-Zyklus werden der Traum von Harmonie, die Hoffnung auf den Frühling des gesellschaftlichen Lebens und im Gegensatz dazu die Verzweiflung, die Kälte des gegenwärtigen politischen Systems sichtbar. Der Liederzyklus "Winterreise" zeigt einmal mehr Franz Schubert als genialen Komponisten. Diesmal deutlich im Spannungsfeld zwischen Aufbegehren, Hoffnung und Todessehnsucht. Geschuldet der politischen Repression, gewiss aber auch seiner tödlichen Krankheit, die schließlich auch eine gesellschaftliche Ausgrenzung im Gefolge hatte.
Ein wahrer Genuss waren an diesem Abend aber die vier ausgezeichneten Musiker. Eilika Wünsch interpretierte sehr einfühlsam und ausdrucksstark mit wunderbarem Sopran, selbst in den leisesten Tönen. Der Geiger Vater ließ seine Geige meisterlich singen - besonders in den Intermezzi. Hochkonzentriert und dennoch leicht ließ Bernhard Wünsch das Piano perlen, und dazu fügte sich der Bassist Adelmann hervorragend ein.
Das nächste Kammerkonzert wird wohl von etwas leichterer Kost sein, denn am Freitag, 18. Dezember, erwartet das Publikum an selber Stelle "Lieder und Instrumentalwerke zur Weihnachtszeit".