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Lohr
Jugend nach dem Lockdown: "Viele ziehen sich immer noch sozial zurück"
Sozialpädagogin Kerstin Heine leitet das Juze in Lohr. 
Foto: Ernst Huber | Sozialpädagogin Kerstin Heine leitet das Juze in Lohr. 
Bianca Löbbert
 |  aktualisiert: 12.11.2022 02:40 Uhr

Zurück zur alten Normalität? Mitnichten. Machten schon während der Pandemie Elternverbände und Sozialarbeiter auf die schwierige Situation der Kinder und Jugendlichen aufgrund von Lockdowns und Corona-Schutzmaßnahmen aufmerksam, so bringen nun immer mehr groß angelegte Studien die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche ans Licht.

Chronische Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Essstörungen: Die Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf etwa zeigt, dass sich die Zahl der psychisch belasteten Kinder und Jugendlichen während der Pandemie von 15 auf 30 Prozent verdoppelt hat. Zwar gebe es in manchen Bereichen wieder eine leichte Verbesserung des psychischen Wohlbefindens, aber noch immer fühlen sich viele Kinder durch die Pandemie psychisch belastet.

Der Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit hat für 2021 eine deutliche Zunahme von Depressionen und Essstörungen bei Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren festgestellt. Grundschulkinder zeigten eine spürbare Steigerung von Störungen sozialer Funktionen und eine Zunahme von Entwicklungsstörungen.

Eine, die sich täglich mit diesen Themen konfrontiert sieht, ist Kerstin Heine. Die Sozialpädagogin leitet das von der Arbeiterwohlfahrt getragene Jugendzentrum (Juze) in Lohr. Sie warnte bereits früh vor den Langzeitfolgen der staatlichen Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche.

Frage: Die Lockdowns sind vorbei, hoffen wir alle. Kehren nun die Kinder und Jugendlichen einfach zur Normalität zurück?

Kerstin Heine: Nein, so einfach ist das nicht. Gerade psychische Auswirkungen sind oftmals noch nicht sichtbar und zeigen sich nur schleichend. Die Rückzugsthematik existiert zum Beispiel immer noch. Es ist ja nicht so, dass nun alles wieder geöffnet ist und dann gehen auch alle wieder raus und genießen das volle Leben. Viele Kinder und Jugendliche ziehen sich immer noch sozial zurück.

Auch wir haben den Kontakt zu einigen verloren. Sie gehen ihren alten Hobbys nicht mehr nach. Man kommt immer schwerer an sie heran. In zweieinhalb Jahren haben sie sich an diesen Rückzug und die Vereinsamung gewissermaßen gewöhnt. Unsere Angebote im Juze sind zwar derzeit voll ausgebucht und nachgefragt, vor allem bei den Kindern. Aber das heißt nicht, dass jetzt alles wieder beim Alten ist.

Welche Probleme sind das genau, wenn wir von der psychischen Gesundheit sprechen?

Heine: Wir bekommen nun vermehrt mit, dass Jugendliche auch in Therapie gehen. Das ist auf einer Seite gut, da die Scheu, sich Hilfe zu suchen, abnimmt. Das Thema wird derzeit sehr offen kommuniziert, auch in den sozialen Netzwerken, auch von Influencern. Jugendliche haben deswegen weniger Angst, stigmatisiert zu werden, wenn sie sagen, dass sie ein Problem haben und Hilfe brauchen. Besonders hart getroffen hat es laut Studien deutschlandweit die Kinder aus benachteiligten Familien. Man kann sich ja denken, wenn es vor Corona schon schwierig in der Familie war, ist es mit Corona nicht besser geworden. Zudem gab es, wie man festgestellt hat, auch eine Zunahme von häuslicher Gewalt, der Kinder ausgesetzt waren oder sind.

Bewegungsmangel, Ängste, Depressionen werden in dem Zusammenhang in verschiedenen Studien genannt...

Heine: Ja, das hängt ja alles zusammen. Viele hatten schon früh in der Pandemie davor gewarnt, jetzt ist es auch offiziell bestätigt, dass es zum Beispiel durch die weggefallenen Sportangebote bei Jugendlichen vermehrt zum Bewegungsmangel und damit zu mehr Übergewichtigen gekommen ist.

Bei den Mädchen soll die Zahl der Magersüchtigen zugenommen haben. Denn damit lassen sich auch Emotionen unterdrücken und kontrollieren. Depressionen und Ängste sind mehr als Spätfolgen zu verstehen, die jetzt erst mal richtig durchbrechen, etwa weil jetzt der Leistungsdruck wieder richtig spürbar wird. Hut ab vor allen Schülern und Studenten, die in dieser Zeit Online-Unterricht hatten, die einen Abschluss gemacht haben, die sich eine Ausbildung gesucht haben, in einer Zeit in der oft nicht mal Praktika möglich waren.

Müsste sich das jetzt nach der Pandemie nicht allmählich wieder selbst regulieren?

Heine: Nein, denn die Kinder und Jugendlichen, egal in welchem Alter und in welcher Phase, haben quasi zwei Jahre in ihrer Entwicklung verpasst. Wichtige Entwicklungsschritte, die man macht, zum Beispiel die Abnabelung von den Eltern oder sich in verschiedenen Bereichen einfach selbst auszutesten, konnten sie nicht machen. 16- oder 17-Jährige werden jetzt plötzlich mit Themen konfrontiert, an die sie sich eigentlich langsam herangetastet hätten.

Wie sehen Sie das Fehlen wichtiger Entwicklungsschritte in Ihrer täglichen Arbeit?

Heine: Den Ferienspaß gab es während Corona nur in einer Light-Version: Weniger Teilnehmer, kleinere Gruppen, Abstand, Maske, nicht alle Aktionen waren möglich. Dieses Jahr fand er zum ersten Mal nach Corona wieder in seiner vorherigen Größe statt. Wir haben da schon vermehrt auffälliges Verhalten bei den Kindern festgestellt. Waren sonst mal ein bis drei Kinder auffällig, waren es jetzt deutlich mehr.

Es hat sich gezeigt, dass sich ein paar der Kinder nicht mehr so gut in die Struktur einer Gruppe einfügen können. Auch das freie Spielen war für manche keine Selbstverständlichkeit mehr. Manche Kinder wissen sich nicht mehr selbst zu beschäftigen und brauchen ständige Anleitung. Dann gab es noch Situationen bei der Emotionsregelung. Unsere Betreuer mussten vermehrt in Situationen eingreifen, die die Kinder gefühlt vor der Pandemie selbstständig regeln konnten. Gerade hier hat der Ferienspaß und der soziale Kontakt in Gruppen allen gut getan.

Und wie wirken Sie dieser Entwicklung aus den vergangenen zwei Jahren nun entgegen?

Heine: Vor allem durch viele Angebote. Wir machen derzeit ganz viel draußen, ganz viel mit Bewegung. Eine Kompensationsstrategie während der Pandemie war ja auch der vermehrte Medienkonsum. Bei Videospielen haben sich die Kinder und Jugendlichen ja auch wenigstens online treffen können. Jetzt müssen wir wirklich darauf achten, dass die Playstation aus bleibt und dass wir Dinge live machen. Ein sehr gutes Beispiel ist unser geplantes großes Kinder- und Jugend-Tanztheater.

Was planen Sie mit diesem Projekt?

Heine: Es wird ein großes Tanztheater von und für Kinder und Jugendliche, das auch die ganze Bandbreite der Kinder- und Jugendkultur umfassen soll. Also etwa Musikstile wie Rap, Graffiti oder auch unsere Skater. Es wird Tanz- und Musikworkshops geben, Kunstworkshops, in denen wir auch das Bühnenbild selber machen. Jeder soll involviert werden, der möchte und jeder in seinem Bereich, in dem er etwas beisteuern möchte.

Da geht es dann auch darum, wieder in der Gruppe und Gemeinschaft auf ein großes langfristiges Ziel gemeinsam hinzuarbeiten, Resilienz aufzubauen und alle zu integrieren. Also alles, was in den letzten zwei Jahren zu kurz kam. Präsentieren werden wir das Projekt Ende April in der Stadthalle als richtige Show. Unterstützt werden wir vom Lionsclub Lohr-Marktheidenfeld. Jetzt starten wir in die heiße Phase der Planungen, worauf wir uns sehr freuen.

 
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