
Karlstadt empfindet Dr. Raphael Wischert als ein Stück heile Welt – mit seiner Ruhe und der Landhaft drum herum. Hier ist er aufgewachsen und im Johann-Schöner-Gymnasium zur Schule gegangen. Inzwischen lebt der 32-Jährige in Shanghai. In Karlstadt hätte er keine Möglichkeit, seinen Beruf auszuüben.
Raphael Wischert simuliert chemische Reaktionen und ist hier so spezialisiert, „dass ich weltweit vermutlich alle per Du kenne, die das machen“. Erst Anfang Juli hatten sich diese Spezialisten zu einer Konferenz in London getroffen, was der junge Chemiker zu einem Besuch in seiner unterfränkischen Heimat nutzte. Hier konnte er auch wieder einmal ein Stück joggen, was in der eng bebauten chinesischen 24-Millionen-Einwohner-Metropole und bei der häufigen Luftverschmutzung fast unmöglich ist.
Eine andere Welt
„Shanghai ist eine andere Welt“, erzählt er. Überall Beton, Lärm und Menschenmassen. „Aber irgendwie doch faszinierend.“ Er lebt recht zentral im 20. Stockwerk. Zur Arbeit im südlichen Industriegebiet fährt er mit der Metro und dem Bus rund 45 Minuten. In der Einkaufsstadt Shanghai mit ihren hohen Immobilienpreisen erlebt er manchmal, dass ein Geschäft, das am Vortag noch da war, am nächsten schon durch ein anderes ersetzt ist. In der Nacht hatten die Räumung des einen und die Einrichtung des anderen stattgefunden. Seit seiner Ankunft sind auch bereits mehrere neue U-Bahnlinien gebaut worden. Raphael Wischert: „Die Stadt ist ständig im Wandel.“
Chemie am Gymnasium
Entbrannt war sein Interesse für die Chemie am Gymnasium bei Lehrerin Anna-Barbara Jakob. Obwohl er das Fach nur drei Jahre gehabt hatte, wagte er das Studium, zuerst drei Jahre in Würzburg und dann zwei in Lyon – Raphael Wischert ist durch seine französische Mutter zweisprachig aufgewachsen. Dort promovierte er von 2007 bis 2010 zum Thema Aluminiumoxid. Das lenkte ihn in seine heutige Fachrichtung – Katalysatoren. Bis November 2012 war der Karlstadter als Post-Doktorand an der Eidgenössisch Technischen Hochschule in Zürich.
„Für mich war nicht klar, ob ich an die Uni oder in die industrielle Forschung gehen will.“ Als er über seinen Doktorvater von einem Jobangebot in Shanghai erfuhr, stand China für ihn eigentlich nicht auf dem Plan. Doch dann habe er sich gedacht: Jetzt oder nie. Denn die Aufgabe war genau die, die er sich vorgestellt hatte. Und der Aufbruch ins „Ungewisse“ hatte einfach seinen Reiz.
Seit Januar 2013 ist er nun dort für die belgische Firma Solvay tätig. Bei seiner Forschung geht es meistens darum, die passenden Katalysatoren zu finden – das heißt Substanzen, die chemische Reaktionen beschleunigen – und die dabei ablaufenden Prozesse zu verstehen. Das ist für die Industrie von Bedeutung, da am Ende zum Beispiel weniger Energie für einen Produktionsprozess benötigt wird. Der Prozess wird damit ökologisch und ökonomisch verbessert.
Wenn experimentell arbeitende Chemiker eine Beobachtung machen oder eine Idee haben, werden diese in Experimenten weiter erforscht. Durch Raphael Wischerts Simulationen am Rechner lässt sich die Zahl der Experimente senken, die nötig sind. „Das Ziel ist, beispielsweise statt 1000 nur noch 100 Experimente zu machen.“ Seine Rolle ist darüber hinaus die Zusammenarbeit mit Unis.
Vor allem gehe es darum, Moleküle umzuwandeln. Zum Beispiel wird dabei die Umwandlung von aus Biomasse gewonnenen Zuckermolekülen in Kunststoffe untersucht. Konkret hatte Raphael Wischert auch mit der Herstellung von Vanillin zu tun, dem Molekül, das chemisch identisch ist mit dem von Bourbon-Vanille.
Englisch ist die Verkehrssprache in seiner Abteilung, in der er mit 15 anderen Forschern zusammenarbeitet, darunter hauptsächlich Chinesen und vier fest angestellte Europäer. An seinem Chinesisch arbeitet Raphael Wischert stetig. „Aber bislang reicht es nur fürs Nötigste wie Restaurant oder Taxi.“
Sport ist schwierig
Sport zu treiben ist für den ehemaligen Pfadfinder der Heiligen Familie und Rennruderer in Shanghai schwierig geworden. Ab und zu geht er schwimmen oder oder tanzt Salsa, das auch in China beliebt ist. Zum Joggen kommt er eigentlich nur bei einem der seltenen Besuche in Karlstadt. Seinen Standort Schanghai nutzt er gerne für Reisen innerhalb Chinas und in verschiedene asiatische Regionen – auf denen sich einmalige Gelegenheiten zum Fotografieren bieten – einem weiteren Hobby. Und er beschäftigt sich intensiv mit asiatischer Küche. „Ich koche ab und zu, auch wenn ich kein Synthesechemiker bin – aber viel lieber esse ich.“