Es ist der erste sonnige Tag nach dem Sturm: Auf den städtischen Friedhöfen ist einiges an Laub und Ästen runtergekommen, liegt auf den Wegen, hat sich in den Büschen und Beeten verfangen. Zusammen mit seinen Kollegen arbeitet sich Yasser Alhussein voran: Zügig und mit konzentriertem Blick recht er Blätter, fegt mit dem Laubbläser die Wege wieder frei.
Seit Anfang 2021 arbeitet der 28-Jährige Syrer bei der Grünkolonne der Stadt Marktheidenfeld. Wer ihn beobachtet, sieht einen ganz normalen Mitarbeiter. Oder wie es seine Kollegen beschreiben: Einen immer gut gelaunten und stets engagierten Menschen. Dass er zu 100 Prozent schwerbehindert ist, sieht man nicht. Yasser Alhussein war ungefähr 16 Jahre alt, als ihm immer häufiger auffällt, dass er nicht mehr gut sieht. "Ich konnte die Dinge nicht mehr scharf stellen, habe zum Beispiel die Umrisse der Tomate nicht mehr richtig gesehen, nur noch die rote Farbe", beschreibt er. Damals lebte er noch mit seiner Familie in Damaskus, spielte in der zweiten Liga Fußball und ging zur Schule. "Der Augenarzt hat mir erstmal eine Brille verordnet, weil er nichts auffälliges fand", erzählt er.
Yasser Alhussein hat aktuell einen Seh-Rest von zwei bis drei Prozent
Es dauert, bis seine Probleme als ernst zu nehmende Augenkrankheit erkannt werden. Er hat eine Zapfen-Stäbchen Dystrophie. Eine Gen-Krankheit, für die es bis heute keine Therapie gibt, die das Voranschreiten der Krankheit aufhält oder das Sehen wieder herstellen kann. Yasser Alhussein hat aktuell einen Seh-Rest von zwei bis drei Prozent. Neben der Beeinträchtigung durch die Krankheit kam für ihn in Syrien erschwerend hinzu, dass dort die Perspektiven für Sehbehinderte schlecht sind. "In Syrien gibt es wenig Verständnis für Menschen mit Behinderung, im Gegenteil, sie werden eher gemobbt", erzählt er.
Mit Ausbruch des Bürgerkriegs 2015 flieht Yasser Alhussein mit 22 Jahren aus seinem Heimatland. Über den Libanon, die Türkei und Griechenland gelangt er nach Deutschland. Zwei Jahre wird er ohne jegliche Perspektive von Flüchtlingsunterkunft zu Flüchtlingsunterkunft geschickt bis er seine Aufenthaltsgenehmigung erhält. Endlich geht es für ihn weiter und er kommt ans Berufsförderungswerk nach Veitshöchheim, einem Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte. Doch auch hier ist die Aussicht, einen Beruf zu erlernen schwierig. Yasser Alhussein hat keinen Schulabschluss, damals auch noch schlechte Deutschkenntnisse.
Wieder fehlt die Perspektive - bis Yasser Alhussein über einen Bekannten ein 14-tägiges Praktikum bei der Stadt Marktheidenfeld vermittelt bekommt. Im August 2020 unterstützt er die Grünkolonne der Stadt. "Das Gefühl zu arbeiten, etwas zu tun - das war einfach nur gut", erzählt er. Und auch das Bauhof-Team ist angetan vom Praktikant. "Die Leute mögen mich, wir mögen uns. Wir machen gemeinsam unsere Arbeit und haben ein Ziel", formuliert es der Syrer. Innerhalb kurzer Zeit ist er vertraut mit Rasenmäher, Laubbläser und Heckenschere. Ist er anfangs noch unsicher und hat zum Beispiel Sorge, beim Rasenmähen auf dem Friedhof aus Versehen eine Bepflanzung an einem Grab zu überfahren, wird er von Woche zu Woche sicherer. Er prägt sich die Umgebung ein, lernt durch Erfahrung.
Auch seine Arbeitskollegen sind erstaunt, wie gründlich er trotz seiner Sehbehinderung seine Aufgaben erfüllt. Und sie mögen ihren neuen Kollegen, denn er ist nicht nur engagiert, sondern auch ein angenehmer Zeitgenosse. Bei Yasser Alhussein weckt die Teamarbeit seinen Ehrgeiz, besser deutsch zu lernen. Von einer Arbeitskollegin lässt er sich täglich fünf neue Wörter schicken, die er noch nicht kennt. Auch fragt er schwierige Wörter nach und lässt sie sich erklären.
Anfang Januar 2021 dann kommt die Botschaft: Yasser Alhussein bekommt er eine unbefristet Vollzeitstelle bei der Grünkolonne. Zunächst wohnt er, unterstützt durch Pfarrer Alexander Eckert, in der Pension Sonne in Bischbrunn. Im März 21 zieht er in eine eigene Wohnung in die Fahrgasse mitten in Marktheidenfeld. "Ich habe Glück gehabt. Ich kenne viele, die ewig in der Ausbildung hängen", sagt er. Erst Deutschkurse mit verschiedenen Leveln machen müssten, dann die Berufsausbildung. Bis man dann auf dem Arbeitsmarkt lande, könne es dauern.
Yasser Alhussein hofft nun, dass ihn seine Sehbehinderung den Job in der Grünkolonne noch möglichst lange machen lässt. Aber auch, wenn es mit seiner Sehfähigkeit schlechter werden sollte, hat er einen Plan B. "Mein Traum ist es, etwas eigenes auf die Beine zu stellen. Vielleicht einen Imbiss mit arabischen Spezialitäten", erzählt er. Aber es gibt noch einen zweiten Traum. Einen, der mit seiner Familie zusammenhängt, die in Damaskus geblieben ist. Mehrmals die Woche telefoniert er mit seiner Mutter und seinen vier Schwestern, die noch in Syrien leben und die er seit seiner Flucht nicht mehr persönlich getroffen hat. Er schickt ihnen auch einen Teil seines Gehaltes. Sollte er in diesem Frühjahr, Sommer seine deutsche Einbürgerung erhalten, könnte er seine Familie zumindest in einem syrischen Nachbarland besuchen. Sein größter Wunsch aber wäre, seine jüngste Schwester nach Deutschland zu holen. Sie hat als zweite aus der Familie die Zapfen-Stäbchen Dystrophie geerbt.