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DUTTENBRUNN
Inklusion: Mittendrin und glücklich
Inklusion: Lina Siegler hat seit der Geburt eine Behinderung. Trotzdem ging sie in den Regelkindergarten, jetzt in die Regelschule. Der Weg war anstrengend, kompliziert, aber immer bereichernd – nicht nur für sie.
Auf der „Bühne“ im Duttenbrunner Kindergarten: „Hier habe ich am liebsten gespielt“, berichtet die siebenjährige Lina Siegler über den mit Matten und Matratzen ausgelegten Bewegungsraum, wo sie gemeinsam mit ihren Freundinnen toben konnte. Integrationsfachkraft Petra Hoffmann (links) und Kindergartenleiterin Michaela Pfister haben das Schulkind Lina noch einmal zum Fototermin dorthin begleitet.
Foto: Heidi Vogel | Auf der „Bühne“ im Duttenbrunner Kindergarten: „Hier habe ich am liebsten gespielt“, berichtet die siebenjährige Lina Siegler über den mit Matten und Matratzen ausgelegten Bewegungsraum, wo ...
Von unserer Mitarbeiterin Heidi Vogel
 |  aktualisiert: 03.12.2019 08:44 Uhr

Für 935 Kinder im Landkreis Main-Spessart war der 15. September ein ganz besonderer Tag – ihr erster Schultag. Für die siebenjährige Lina aus Duttenbrunn war er noch ein Stück außergewöhnlicher: Lina lebt von Geburt an mit einem Handicap. Jetzt wurde sie in der Himmelstadter Grundschule eingeschult.

Die beeindruckende Geschichte von Lina Siegler macht Mut und zeigt, was mit unbändigem Willen und mit unermüdlichem Einsatz – durch die ganze Familie – erreicht werden kann. Sie macht außerdem deutlich, dass Inklusion nicht immer einfach, aber lohnenswert ist und erfolgreich sein kann.

Es war der 20. Januar 2008, der das Leben der Duttenbrunner Familie Siegler mit Mama Anette, Papa Marco und der damals dreijährigen Tochter Lea schlagartig auf den Kopf stellte. Nach reibungsloser Schwangerschaft gab es bei der Geburt Komplikationen, die kleine Lina erlitt Sauerstoffmangel und wurde in einen Tiefschlaf verlegt. Nach unerträglichen Tagen der Ungewissheit kam die niederschmetternde Diagnose: Lina litt an einer Störung der Motorik und des Sprachzentrums. Ihre Entwicklungsprognose? Völlig ungewiss. „Kein Arzt konnte uns damals sagen, wie Lina sich entwickeln wird oder inwieweit sie beeinträchtigt sein wird“, erinnert sich Anette Siegler an das Entlassungsgespräch.

Nach dem ersten Schock begann sie, zu recherchieren, suchte nach Möglichkeiten, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen und ihre kleine Tochter bestmöglich zu fördern. Sie stieß auf den Würzburger Verein „Fortschritt“. Er fördert nach den Lehren des ungarischen Neurologen und Pädagogen András Petö cerebral geschädigte Kinder und Erwachsene. Dabei steht nicht die Behinderung im Mittelpunkt, sondern die Persönlichkeit. Die Behinderung wird als Lernstörung gesehen, die überwunden werden kann, aber nicht heilbar ist.

Neben der Therapie in Würzburg erhielt Lina zusätzlich Krankengymnastik, um die angespannten Muskeln zu lockern. Und weil die Eltern Siegler wollten, dass ihr Kind in dem 500-Seelen-Ort nicht nur Kontakt zu ihrer älteren Schwester Lea, sondern auch zu anderen Kindern bekommt, besuchte die Zweieinhalbjährige zusammen mit der Mutter einmal in der Woche den Duttenbrunner Kindergarten.

Kurz vor Linas drittem Geburtstag wurde es dann ernst: Konnte Lina als ganz normales Kindergartenkind aufgenommen werden? „Nach Gesprächen mit dem Vorstand war für uns alle klar, dass wir es ihr ermöglichen, in der Gemeinschaft zu bleiben“, erklärt Michaela Pfister, die Leiterin des Kindergartens. „Lina hat schon immer dazugehört. Es war keine Frage, sie bei uns aufzunehmen.“ Und so besuchte Lina, dann stolze Dreijährige, jeden Vormittag den örtlichen Kindergarten.

„Anfangs war eine 1:1-Betreuung notwendig“, erinnert sich Pfister. Anfangs konnte die Dreijährige noch nicht laufen, sondern bewegte sich auf den Knien hüpfend fort. Zudem benötigte sie oft die Übersetzungshilfe der größeren Schwester. „Aber mit der Zeit hört man sich rein, themenbezogene Fragen und Antworten waren relativ einfach zu verstehen“, ergänzt Erzieherin Petra Hoffmann aus Lohr, die als Integrationsfachkraft für Lina in den Kindergarten kam. „Anfangs habe ich Sachen zur Förderung der Wahrnehmung mit Lina gemacht, wie mit den Händen fühlen oder schöpfen“, so Hoffmann. Mit der Zeit aber habe sie gemerkt, dass es ihrem Schützling wichtig war, nicht aus der Gruppe herausgerissen zu werden.

Von da an konzentrierte sie sich darauf, dass Lina alle Aktivitäten der anderen mitmachen konnte und unterstützte sie dabei. „Das waren ganz einfache Dinge, wie beispielsweise die Tasche oder die Brotzeitdose zu öffnen“, beschreibt Hoffmann. Einer der größten Erfolge: Lina hängt ihre Kindergartentasche alleine an die Garderobe und wäscht anschließend Hände.

Zusätzlich absolviert Lina ein durchgetaktetes Förderprogramm mit Logopädie, Krankengymnastik, Förderverein „Fortschritt“, Ergotherapie, Reiten sowie täglichem Turnen zu Hause. Mittlerweile kann Lina frei laufen und sprechen. Weil ihre Mundmotorik eingeschränkt ist, dauert es manchmal etwas länger, bis sie einen Satz formuliert hat.

Im August 2015 endete die Kindergartenzeit. Das Fazit der Eltern, aber auch der Erzieherinnen ist nur positiv. „Für uns kam von Anfang an nur dieser Weg in Frage. Und wenn ich sehe, was Lina durch den Kontakt zu nicht behinderten Kindern alles gelernt und sich abgeschaut hat, dann war es die absolut richtige Entscheidung“, betont Anette Siegler. Zum Wohl der Tochter hat sie ihre Berufstätigkeit stark eingeschränkt. Zudem wurde sie von ihren Eltern unterstützt.

Aber auch Kindergartenleiterin Michaela Pfister, die das aufgeweckte Mädchen als kooperativ und ehrgeizig bezeichnet, bewertet die Zeit mit Lina als durchweg positiv. „Es war für beide Seiten sehr bereichernd. Die Duttenbrunner Kinder hatten die Chance, kennenzulernen, wie normal es ist, verschieden zu sein“, erklärt Pfister gerade im Hinblick auf die soziale Kompetenz der Kinder. Und so stand weder für die Erzieherin, noch für die Eltern außer Frage, dass Lina gemeinsam mit ihren Freundinnen die Grundschule in Himmelstadt besucht – trotz anfänglicher Vorbehalte von Seiten der Schule. „Lina hat keine geistigen Defizite, ganz im Gegenteil. Nur weil sie sprachlich oder motorisch nicht so fit ist, warum sollte sie deshalb nicht in Himmelstadt eingeschult werden?“, begründet Pfister, warum sie Lina für die Regelschule empfahl.

Rund vier Wochen sind seit der Einschulung vergangen. Der Schulalltag klappt bislang ohne Probleme, wenn auch nicht ganz ohne Hilfe. Eine Schulbegleiterin hilft Lina am Morgen und nach Unterrichtsschluss beim Ein- und Aussteigen in den Schulbus. Im Unterricht gibt sie Lina Hilfestellungen, wie beim Umblättern einer Seite. Aber auch hier ist es ähnlich wie im Kindergarten, Lina ist im Schulalltag komplett integriert. „Das Schreiben kostet sie große Anstrengung. Langfristig werden wir hier wohl einen Laptop benötigen“, erklärt Mama Anette. Trotz der Einschränkungen lege die Siebenjährige aber eine enorme Motivation an den Tag. Und was sagt die Betroffene selbst dazu? „Im Kindergarten war es schön und in der Schule gefällt es mir auch sehr gut“, berichtet Lina mit strahlenden Augen. Ihr schönstes Schulereignis der letzten Tage: Gestern durfte sie dreimal an die Tafel.

Fingerfertigkeit: Die gemeinsamen Übungen mit Mama Anette zählen zum täglichen Therapieprogramm zur Förderung der Motorik in den Händen.
| Fingerfertigkeit: Die gemeinsamen Übungen mit Mama Anette zählen zum täglichen Therapieprogramm zur Förderung der Motorik in den Händen.
Stolz präsentiert die Abc-Schützin Lina Siegler ihre Schultüte.
| Stolz präsentiert die Abc-Schützin Lina Siegler ihre Schultüte.
 
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