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Main-Spessart
„In manchen Bereichen ist das Gemeinwesen wieder mehr gefordert“
Das Gespräch führte Klaus Gimmler
 |  aktualisiert: 16.12.2021 11:07 Uhr

Der demografische Wandel ist ein schleichender Prozess. Doch er hat an Fahrt zugenommen. Am deutlichsten wird dies bei den Einwohnerzahlen. Den Höchststand hatte der Landkreis Main-Spessart mit über 132 000 im Jahr 2002 erreicht. Seitdem geht es bergab auf derzeit zirka 126 000 Bewohner. Im Jahr 2035 sollen es nach einer Studie, die der Landkreis in Auftrag gegeben hat, nur noch knapp 107 000 Einwohner sein. Dies hat erhebliche Folgen vor allem für die Menschen im ländlichen Raum. Wird es dort noch genügend Kinder für den Kindergarten und die Schulen geben, bleibt der Lebensmittelmarkt im Ort und verfallen die Kernorte? Wir sprachen mit Landrat Thomas Schiebel, wie der Landkreis dem Strukturwandel begegnen will.

Frage: Herr Schiebel, wo sehen Sie die größten Gefahren aufgrund des demografischen Wandels?

Thomas Schiebel: Im Verlust von Infrastruktur – bislang war es der größte Ehrgeiz eines Bürgermeisters, diese für seine Gemeinde zu schaffen. Für ländliche Gemeinden wird es die größte Herausforderung sein, die bestehende Infrastruktur zu erhalten.

Beispiel Obersinn: Eine Studie des Landkreises prognostiziert für den Ort im Jahr 2035 nur noch 514 Einwohner. Wenn es so kommt, schrumpft der Ort in 25 Jahren um die Hälfte. Wie soll die Gemeinde damit fertig werden?

Schiebel: Das ist sehr schwer, vor allen für Gemeinden, in denen die Arbeitsplätze nicht vor der Haustüre liegen. Die Bürger müssen immer mehr für Kanal- und Trinkwasser zahlen, weil die Kosten für die Einrichtungen auf immer weniger Schultern verteilt werden. Die Kläranlagen beispielsweise lassen sich nicht zurück bauen. Hier kann nur eine Doppelstrategie helfen. Zum einen muss die Gemeinde alles tun, um trotz des Bevölkerungsschwunds möglichst attraktiv zu bleiben. Damit kann sie es schaffen, dass junge Familien im Ort bleiben und vielleicht auch neue Familien in den Ort ziehen. Zum anderen muss sich die Gemeinde auf die veränderten Rahmenbedingungen einstellen. Manches wird nicht mehr zu halten sein.

Befinden sich nicht vor allem die ländlichen Gemeinden in einer Art Teufelskreis? Durch den Bevölkerungsschwund verarmt die Infrastruktur. Dies verstärkt wiederum den Abwärtstrend.

Schiebel: In manchen Bereichen ist das Gemeinwesen wieder mehr gefordert. Ein gutes Beispiel dafür ist der Dorfladen in Gräfendorf, der mit Hilfe und Unterstützung der Dorfbewohner entstanden ist. Ein weiterer Dorfladen ist in Wiesenfeld in Planung. Oder auch das Mehrgenerationenhaus in Binsfeld ist dazu ein gutes Beispiel.

Obersinn steht für viele ländlichen Gemeinden im Landkreis. Werden diese vor allem die Verlierer des demografischen Wandels sein?

Schiebel: Mit den Folgen des Bevölkerungsschwunds haben alle zu kämpfen. Die ländlichen Gemeinden sind aber zweifellos besonders betroffen.

Es gibt weniger Kinder, damit auch weniger Schüler. Sind die Schulstandorte im Landkreis zu halten?

Schiebel: Dazu werden wohl einige Klimmzüge nötig sein, um alle unsere Bildungseinrichtungen zu halten. Das ist das Ziel. Sollte es trotzdem eng werden, plädiere ich für bedarfsgerechte Lösungen. Da spricht der Freie Wähler aus mir. Ich finde, man sollte dies dann undogmatisch lösen. Wo es erforderlich ist, sollte man sich auch vom dreigliedrigen Schulsystem trennen und zu einer Gesamtschule übergehen. Dies muss man aber im Einzelfall vor Ort beurteilen.

Welche Entwicklung erwarten Sie bei der medizinischen Versorgung. Ältere Menschen brauchen eine stärkere Betreuung?

Schiebel: Wir wollen unsere drei Krankenhäuser erhalten. Im Rahmen dieses Konzeptes ist Marktheidenfeld der Sitz der Geriatrie. Diese wird sich weiter entwickeln. Erst kürzlich hat sich dort mit Dr. Volkmar Göbel ein Zahnarzt niedergelassen, der Behandlungen speziell für ältere Menschen anbietet. Für sie hat er sich auch eine mobile Zahnarztpraxis angeschafft. Solche Lösungen bei der ambulanten medizinischen Versorgung werden sicher zunehmen.

Wir werden immer älter. Es werden mehr Pflegeplätze gebraucht. Regelt das der Markt oder muss der Landkreis hier steuernd eingreifen?

Schiebel: Der Landkreis bietet selbst Plätze in den Kreisseniorenwohnheimen in Marktheidenfeld und Gemünden an. Zudem bin ich als Landrat automatisch Vorsitzender des Stiftungsrats der Otto-Herold-Stiftung in Karlstadt. Aber auch viele private Betreiber bieten Pflegeplätze an. Der Markt ist hart umkämpft. An manchen Orten gibt es sogar ein Überangebot. Aber hier muss jeder Investor selbst entscheiden. Ein großes Problem ist, geeignetes Fachpersonal für die Pflegeeinrichtungen zu finden.

Eine Folge des demografischen Wandels ist die Verödung der Ortskerne. Viele bauen ihr Häuschen lieber auf die grüne Wiese. Bei abnehmender Bevölkerung führt dies innerorts zu Leerständen. Ist es überhaupt noch sinnvoll, Bebauungsgebiete auszuweisen.

Schiebel: Man sollte da zurückhaltend sein. Innenraumverdichtung sollte Vorrang vor Außenraumerschließung haben. Aber das sagt sich leicht. Im Einzelfall ist dies schwer zu entscheiden. Die Altorte sind gewachsen. Dort gibt es verschachtelte Gebäude und Grundstücke, wo es sehr viel Geschick braucht, sie zu entwickeln. Zudem wollen sich auch manche Eigentümer nicht von ihrem Grundstück trennen. Es ist fränkische Mentalität, dass man sie lieber für seine Kinder und Enkel aufhebt, auch wenn diese oft andere Pläne haben.

Wir haben jetzt über die Probleme des demografischen Wandels gesprochen. Es gibt natürlich auch Chancen. Wo sehen Sie diese?

Schiebel: Schauen Sie mich an. Ich bin in diesem Jahr 55 geworden. Diese Zahl hat für mich den Schrecken verloren. Die 'Alten' an sich gibt es gar nicht mehr. Es ist eine heterogene Gruppe. Es gibt auch noch den sportlichen 80-Jährigen, der mit dem Fahrrad die Alpen überquert, auch wenn das noch die Ausnahme ist. Es gibt inzwischen sehr viele Angebote für die Freizeitgestaltung von Senioren. Der demografische Wandel hat sicher auch mehr Lebensqualität gebracht.

ONLINE-TIPP

Alle Texte der Serie „Heimat im Wandel“ unter www.mainpost.de/heimat

 
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