
Ihr wurde schon so einiges angedichtet. Zum Beispiel sah der Arzt Rudolf Virchow in ihr ein "besonderes Erregungsmittel" und brachte das in Verbindung zur großen Zahl von unehelichen Kindern in der Region. Die Kartoffel als Stimulanz für die Geschlechter? Jedenfalls gelten die vielseitigen Knollen als nahrhaft und sind Grundnahrungsmittel geworden. Ein Inhaltsstoff ist freilich giftig: Solanin.
Darum wurde die Kartoffel zur "Giftpflanze des Jahres 2022" gewählt. Ein Fall für Eduard Stenger, Chef des Lohrer Kartoffelclubs und damit örtlicher Kartoffelkönig. Das mit der Giftpflanze habe ihn total überrascht: "Ich konnte es erst gar nicht glauben", sagte der Kartoffelexperte im Gespräch mit unserer Redaktion. Denn eigentlich seien die Knollen ja "äußerst gesund".
Aber die Kartoffel sei nicht ohne Grund zur Giftpflanze des Jahres 2022 bestimmt worden, denn sie enthalte in allen Pflanzenteilen das Gift Solanin, mit dem Fressfeinde abgeschreckt werden sollen. In modernen Kartoffelsorten ist nur noch wenig Solanin enthalten, trotzdem warnt das Bundesinstitut für Risikobewertung vor stark keimenden Kartoffeln, in denen sich das Gift anreichert.

Die europäische Knollenkarriere hatte einen holprigen Start. Spanische Eroberer nahmen die "Erdäpfel" aus den Anden in Südamerika mit zurück. Zunächst wurden die Pflanzen wegen ihrer schönen Blüten in botanischen Gärten gehalten und womöglich nur die grünen oberirdischen Teile gegessen, was zu Vergiftungen führte. Front gegen das Nachtschattengewächs machte die Kirche, berichtet Stenger, denn die Knolle stehe nicht in der Bibel und gehöre zur Pflanzenfamilie, aus der das Hexenkraut stamme.
Allmählich das wichtigste Grundnahrungsmittel
Doch den Siegeszug der Kartoffel hätten die Kirchenmänner nicht aufhalten können. Richtig heimisch sei die Kartoffel in Deutschland dann im 18. Jahrhundert geworden. Maßgeblichen Anteil hatten die "Kartoffelbefehle" zum Anbau im Königreich Preußen. Im Siebenjährigen Krieg (1756 bis 1763) und im folgenden Jahrzehnt sei die Kartoffel in Preußen allmählich das wichtigste Grundnahrungsmittel geworden, so Stenger.
1852 veröffentlichte der Mediziner Rudolf Virchow seinen Bericht "Die Noth im Spessart". Vorausgegangen war im Februar jenes Jahres eine Expedition, um Hunger, Armut und Gesundheit der Menschen in der Waldregion zu erkunden. Laut Virchow war "die ganze Existenz dieser Bevölkerung zuletzt auf den Kartoffelbau gesetzt".
Doch die Hoffnung, "dass diese wohlthätige Pflanze für immer alle Gefahr der Hungersnoth beseitigt habe", blieb in jener Zeit unerfüllt. Nasskaltes Wetter und Pflanzenkrankheiten waren die Ursachen. "Die Kartoffeln missriethen so vollständig", dass sich die Ernte kaum gelohnt habe. Denn die Knollen waren mancherorts "unvollkommen ausgebildet, äusserst klein und wenig mehlhaltig".
Die Speisekarten Europas verändert
Freilich war die Not so groß, dass Virchow beobachtete: "Manche suchten jetzt mühsam die Knollen von den Aeckern, die im Herbst vergessen oder absichtlich zurückgelassen worden waren."

Unterm Strich war die Pflanze aber ein Segen für die Ernährung hierzulande. Stenger: "Insgesamt kann man wohl behaupten, dass die Kartoffel wie keine andere Frucht Europas Speisekarte verändert und bis heute weitgehend Hungersnöte gebannt hat." Er selbst habe von Kindheit an bis heute eine enge Beziehung zu der Pflanze, denn er stamme aus einem Bauernhof.
Im Dorf sei "Kartoffelkönig" übrigens kein Ehrentitel gewesen, sondern ein Spottname für Menschen, die sich beim Essen nicht viel leisten konnten und deshalb hauptsächlich die Knollen auftischten. Er habe in seinem Leben wohl schon an die zehn Tonnen davon gegessen, meint der ehemalige Lehrer und Leiter des Lohrer Schulmuseums. Die Kartoffel sei ein magenfreundliches Grundnahrungsmittel und gesunder Schlankmacher, schwärmt Stenger von den vielen Möglichkeiten der Zubereitung.
Schaukästen für den "Wohltäter"
Mit dem Kartoffelclub wurde Lohr zu einem Zentrum der Knollenverehrung. Die Vereinsfahne trägt den lateinischen Schriftzug "societas ad usum potatonis" – Gesellschaft zum Gebrauch der Kartoffel, und wird in einem Schaukasten im Schulmuseum aufbewahrt. Dort wird die "wohlthätige Pflanze" noch mit weiteren Schaustücken gebührend dargestellt.
Der Kartoffelanbau
