Während ein 15-Jähriger einen Mantel überwirft und ein kleines Mädchen ein Stirnband mit goldenem Stern umgebunden bekommt, setzt sich ein großgewachsener Mann eine Nikolausmütze auf. Zwei Jugendliche versuchen, sich irgendwie unter ein Eselskostüm zu wurschteln und ein Mädchen im Hirtenkostüm übt noch einmal ein Lied auf der Blockflöte, die es in der Hand hält. Insgesamt acht Gambacher verwandeln sich in einem kleinen, staubigen Kellerraum in Nikolaus, Knecht Ruprecht, Hirten, Engel, das Christkind und einen Esel. Dabei stoßen sie – im wahrsten Sinne des Wortes – an die Grenzen des Raumes.
Die ehrenamtlichen Helfer werfen sich an Heiligabend in schicke Kostüme, um Familien in dem Karlstadter Stadtteil zu bescheren. „Gambacher Christkind“ nennt sich die Gruppe, die gerade ihre Generalprobe vorbereitet. Die Einwohner des Dorfes können Nikolaus & Co. seit November telefonisch engagieren. Die Nummer ist auf Plakaten zu finden, die die Gruppe im Ort aufgehängt hat. Doch bereits bevor die hingen, kamen schon die ersten Anfragen. Insgesamt 14 Termine sind für den 24. Dezember fest eingeplant – und ausgebucht. Aufgrund der großen Nachfrage schob die Gruppe sogar noch einen zusätzlichen Termin ein. Die Kostüme haben sie schließlich ohnehin schon an.
Nico Richter und Josef Knoblach stehen Rücken an Rücken. Mit einem Gepäckgurt umwickeln sie ihre Taillen und binden sich aneinander. Beide schnappen sich jeweils zwei Kinderkrücken und lehnen sich vor, damit Petra Simon und Nadine Schmitt das alte Eselskostüm über sie werfen können. Auf den Rücken der zwei, unter das Kostüm gestopft, liegt ein Kissen. Eine rote Decke rundet das Erscheinungsbild fast ab: Jetzt fehlt nur noch das Christkind. Langsam bewegt sich der Esel, schließlich geht ein Teil von ihm die ganze Zeit rückwärts. Josef stört das weniger: „Ich mag die Rolle, weil man nichts sagen muss – und es ist schön warm.“
Nicht nur das Eselskostüm ist schon älter, der Nikolausmantel ist seit über 30 Jahren im Besitz der Gruppe und das Kostüm von Knecht Ruprecht hat Heidrun Pfaff selbst genäht. Sie kümmert sich schon seit Jahrzehnten um die Tradition, die es seit etwa 1900 gibt. Seitdem habe sich weder an der Darbietung noch an der Kostümierung viel geändert. „Im Krieg war der Text mal ein anderer“, erklärt Pfaff. Außerdem hätten Engel und Christkind früher alte Kommunionkleider anstelle der neu angeschafften Kinderkostüme getragen. Damals spielten vorwiegend Mädchen eine Rolle in dem Stück und die Darsteller von Knecht Ruprecht und Esel waren um einiges jünger, wie sich Pfaff erinnert.
„Damals gab es noch zwei Gruppen, die von zwei Familien gespielt worden sind.“ Ursprünglich sei der Brauch sächsisch. Nach Gambach jedoch kam er mit einem Metzger, der in Frankfurt gearbeitet hat.
Von draußen dringt zaghafter Gesang unterstützt durch eine Männerstimme herein. Dabei kommt es nicht darauf an, jeden Ton zu treffen. Vielmehr geht es darum, die Zuschauer zum Mitsingen zu animieren. „Ihr müsst noch viel lauter singen, damit alle mitmachen“, unterbricht Petra Simon, eine der Organisatorinnen, die Proben. Ein lautes Klopfen: Der Nikolaus kommt herein. Zumindest versucht er es. Schon ohne Verkleidung ist die Kellertür für Christian Huss zu niedrig. Mit der Nikolausmütze aber muss er tief in die Hocke gehen, um hereinzukommen. In ähnlicher Manier folgen nach dem Engel auch der Esel, beladen mit dem Christkind, und Knecht Ruprecht.
Neben den Darstellern ist auch Familie Elias bei der Probe dabei. Sie hat die Gruppe schon frühzeitig gebucht, sodass ihr Wunschtermin noch frei war. „Wir haben unserer Tochter vorhin gesagt, dass wir jetzt beim Christkind sind“, erklärt Agnes Elias die Abwesenheit ihrer älteren Tochter. „Sie soll ja nicht wissen, dass alles Fake ist.“
Die Dreijährige glaube schließlich noch an das Christkind. Daher musste es auch wieder eingeladen werden: Vater Marco Elias kennt die Tradition noch aus eigenen Kindertagen. Damals kam das „Gambacher Christkind“ zu seinem Onkel.
Bisher haben die Elias' nur zu Nikolaus jemanden aus dem Bekanntenkreis engagiert, doch in diesem Jahr soll auch Heiligabend etwas Besonderes sein. „Das ist mal was zum Angucken und nicht nur ein Haufen Geschenke“, so die Mutter. Eine Agentur, bei der man einen Weihnachtsmann mieten kann, sei den Eltern hingegen zu kommerziell – und zu fremd. Es sei schöner zu wissen, wer da im eigenen Wohnzimmer steht. „Mit dem Nikolaus spiele ich Tischtennis“, erzählt der Vater.
Während der Probe sitzen Petra Simon, Nadine Schmitt, Jutta Brückner und Sonja Hegel, Mütter und Organisatorinnen, beobachtend am Rand. „Die Mütter werden zwangsverpflichtet zu helfen, wenn die Kinder mitmachen“, sagt Sonja Hegel, Mutter von Knecht Ruprecht Tim. So kam auch Petra Simon ins Team, ebenso wie Mitorganisator Friedbert Haas, dessen Tochter in den vergangenen Jahren den Engel spielte. Mittlerweile sind Simons Kinder nicht mehr dabei – sie sind zu alt für Engel oder Hirten und zu klein für den Esel. Wenn sie älter sind, wollen sie gerne wieder mitmachen. Eine Seltenheit, denn jugendliche Schauspieler zu finden sei sehr schwierig, erklärt Simon.
Die Gruppe finanziert sich nur über Spenden. Dafür hilft das ganze Dorf mit: Vom gestellten Stadtbus über Hilfe vom Einzelhandel bis hin zu Geldspenden der Familien unterstützen alle den Brauch. „Auf dem Dorf stirbt viel aus und solange die Nachfrage da ist, sollte so etwas erhalten bleiben“, plädiert Nadine Schmitt, Mutter des Christkinds Nele.
Petra Simon findet, dass mit diesem Brauch auch das eigene Fest erst zum „richtigen Weihnachten“ wird – auch wenn die Kinder nach der eigenen Bescherung hundemüde ins Bett fallen. Schließlich ist die Truppe von 12 bis 20 Uhr unterwegs. Aber ganz nach dem Motto der Darsteller: „Ist ja fürs Christkind; im Namen des Herrn.“
Mit einem letzten Weihnachtslied verabschiedet sich die Gruppe. „Stille Nacht, Heilige Nacht“, tönt es leiser werdend, bis der Gesang mit den Schauspielern aus der Tür verschwunden ist und nur der Nikolaus zurückbleibt. Er verabschiedet sich: „Nun seid recht brav und fromm, bis nächstes Jahr ich wiederkomm'.“