Selbst am Arbeitsplatz war Rita Spahn lange total fertig gewesen: "Ich hatte dauernd heulen müssen." Die Ruppertshüttenerin konnte nicht begreifen, dass ausgerechnet ihre Tochter Rebekka schwer behindert war. 40 Jahre ist es her, dass Rebekka unter extrem komplizierten Umständen zur Welt kam. Dass sich Rita Spahn allmählich mit ihrem Schicksal abfinden konnte, hat sie der Lebenshilfe Main-Spessart mit Sitz in Lohr zu verdanken. Die unterstützt seit 60 Jahren Eltern mit behinderten Kindern.
Wo es noch keine Angebote gibt, muss man selbst Angebote schaffen, ist eine bis heute gültige Maxime der Lebenshilfe e.V. 1963 wurde eine erste Gruppe geistig behinderter Kinder in Lohr betreut. 1982, als Rebekka zur Welt kam, gab es in Lohr einen Kindergarten, eine Werkstätte, eine Schule mit Tagesstätte sowie, seit 1974, eine Frühförderung.
Von letzterer profitierte Rebekka sehr. Die Frühfördererin allerdings sorgte bei Rita Spahn für einen Schock: "Sie sagte, dass Rebekka nicht nur entwicklungsverzögert, sondern wirklich behindert ist, woraufhin für mich die Welt einstürzte." Bis dahin habe sie stets auf Entwicklungsfortschritte gehofft.
Rita Spahn haderte mit der Frage: "Warum ich?"
Später half Rita Spahn selbst beim Initiieren von Projekten mit: 2012 wurde die Bankkauffrau als Beisitzerin in den Vorstand der Lebenshilfe Main-Spessart in Lohr gewählt. Zu jenem Zeitpunkt lag ein extrem steiniger Weg hinter ihr: "Lange hatte ich mich vehement allein gegen das Wort 'behindert' gesträubt."
Rita Spahn haderte mit der Frage: "Warum ich?" Sie sah, wie glücklich andere Mütter mit ihren gesunden Kindern waren. Sie selbst hatte mit einer Tochter zu tun, die körperlich beeinträchtigt, geistig behindert und extrem verhaltensauffällig war: "Rebekka konnte sehr aggressiv werden. Was die Familie ungeheuer belastete."
Mütter, die in Lohn und Brot stehen und sich daneben um ein mehrfach behindertes Kind kümmern müssen, droht nicht selten früher oder später der Burnout. Anfang der 1970er Jahre zeichnete sich denn auch in der Region Main-Spessart ab, dass es dringend Wohnraum für erwachsene Menschen mit Behinderung braucht. 1976 schließlich konnte in Steinbach bei Lohr eine erste Wohnstätte eingerichtet werden.
Auch Rebekka lebt seit mehreren Jahren in einem Wohnheim der Lebenshilfe, berichtet Rita Spahn: "Wobei wir sie sehr häufig zu uns nach Hause holen." 1969 wurde auch in Marktheidenfeld ein Lebenshilfe-Verein gegründet. 2019, dem Jahr des 50-jährigen Bestehens, wurden im Förderzentrum in Marktheidenfeld 250 Mädchen und Jungen betreut und unterrichtet
Eigene Wohnung statt Heim
Die aktuellen Krisenzeiten führen dazu, dass so mancher Etat der öffentlichen Hand zusammengestrichen wird. Das bereitet Eltern behinderter Kinder laut Rita Spahn Sorgen. Auch die Lebenshilfe Main-Spessart kommt nicht um das Thema Geld herum. Konkret geht es aktuell um eine Wohngemeinschaft für 16 behinderte Menschen in Marktheidenfeld. "Es gibt Probleme bei der Übernahme der Kosten für die Ausstattung", berichtet Wilhelm Singer-Lutz, der für den Wohnbereich der Lebenshilfe im Landkreis verantwortlich ist.
Das Projekt ist von großer Bedeutung, sagt der Experte für Menschen mit Behinderung, der seit 36 Jahren bei der Lebenshilfe arbeitet. Als er Ende der 1980er Jahre in sein Tätigkeitsfeld einstieg, war die Nachfrage nach Wohnheimplätzen hoch: "Befriedigen konnten wir sie im Landkreis erst etwa ab dem Jahr 2000." Nun stehen eben jene Wohnheime, die einst als großer Fortschritt angesehen wurden, zunehmend infrage, wenn nicht gar in der Kritik. Der Trend geht zum ambulant unterstützten Wohnen.
Ein Recht auf Selbstbestimmung
Nun will die Lebenshilfe Ambulantisierung zwar nicht zum Dogma machen: "Wir haben Menschen, die froh sind, dass sie nicht alleine leben müssen", so Wilhelm Singer-Lutz. Gleichzeitig gibt es das in der UN-Behindertenrechtskonvention verbriefte Recht auf Selbstbestimmung. Auch Menschen mit sehr viel Unterstützungsbedarf haben auf dieser Basis, zumindest theoretisch, das Recht, in eigenen vier Wänden oder Wohngemeinschaften zu wohnen: "Tatsächlich gibt es jedoch viel zu wenig Möglichkeiten, diesen Wunsch zu erfüllen."
Zum einen mangelt es an behindertengerechtem, günstigem Wohnraum. "Die Forderung, ambulante Wohnformen für alle Menschen mit geistiger Behinderung einzurichten, stößt in Bayern aber auch auf wenig Verständnis bei den Bezirken", so Singer-Lutz. Dennoch engagiert sich die Lebenshilfe in Main-Spessart auf diesem Feld. Seit 2001 ist ambulant unterstütztes Wohnen möglich. Aktuell werden rund 40 Menschen mit Beeinträchtigung unterstützt.
Am Leben mitten in der Gesellschaft teilhaben
Wer schwer behindert ist, kann wahrscheinlich nicht selbstständig ein Formular ausfüllen oder etwas auf dem Amt erledigen. Er braucht womöglich Assistenz beim Essen. Oder morgens Hilfe beim Aufstehen. Dennoch gibt es für ihn viele Möglichkeiten, am Leben mitten in der Gesellschaft teilzuhaben. Die Lebenshilfe in Main-Spessart eröffnet diese Chancen durch das Angebot "Offene Hilfen". Allmonatlich wird ein umfangreiches Freizeitangebot organisiert.
Auch Rudi Beitel nimmt gerne an den Angeboten der "Offenen Hilfen" teil. "Ich war zum Beispiel schon mit beim Pizzaessen", erzählt der 76-Jährige, der zu den ersten Bewohnern des Wohnheims der Lebenshilfe in Steinbach bei Lohr zählt. Vor 47 Jahren zog Rudi Beitel hier ein. Damals, sagt er, war es längst nicht so schön wie heute: "Um 21 Uhr war Zimmerruhe." Doch welcher erwachsene Mann mag am Freitagabend um neun schon im Bett liegen?
"Heute ist alles viel freier", freut sich der Rentner, der für sein Leben gern strickt. Auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum liegt ein blau-gelbes Wollwerk, das er gerade in Arbeit hat. Obwohl Rudi Beitel Rentner ist, hat er keine Minute Langeweile. Im Wohnheim kümmert er sich unter anderen mit um die Wäsche. Sonntags geht’s nach Maria Bildhausen -wo Rudi Beitel ministriert.