Er wollte Willy Brandt ins Bundeskanzleramt verhelfen und der SPD auf die Regierungsbank. Dafür tourte der Schriftsteller Günter Grass, der am Montag mit 87 Jahren verstorben ist, im Sommer 1969 in einem grünen VW-Bus durch die Bundesrepublik.
Der Autor besuchte damals auch Marktheidenfeld und Lohr. Sein Ziel: Parteilose Wähler aller Berufe und Schichten und Anhänger anderer Parteien mit den SPD-Bundestagskandidaten zusammenzubringen, um deren Wahlchancen zu erhöhen. Grass wünschte sich „hilfreiche und unbequeme Wähler“, die die Arbeit der Abgeordneten nach der Wahl kritisch begleiten sollten. Für den damaligen SPD-Bundestagskandidaten Gilbert Lausmann (Kahl am Main) hat es 1969 nicht gereicht, für Willy Brandt und die SPD aber schon.
Mit „Sozialdemokratischen Wählerinitiativen“ wollte der linksliberale Grass, der damals kein SPD-Mitglied war, den Genossen Wähler zutreiben, so wie andere Intellektuelle und Künstler. Unterstützer waren auch Golo Mann, Siegfried Lenz, Heinrich Böll, Kurt Sontheimer und Richard Löwenthal.
In Lohr stellte Grass sich 1969 für ein werbewirksames Zeitungsfoto mit den regionalen SPD-Größen MdL Oskar Rummel (Lohr), Stadtrat Heinz Lambinus (Marktheidenfeld) und Unterbezirksvorsitzender Fritz Cremer (Lengfurt) ans Fließband der Hohlglaswerke (später Spessart Glas, heute Gerresheimer Lohr) und diskutierte mit Arbeitern.
In Marktheidenfeld sind zwei Besuche des Schriftstellers mit Weltruhm dokumentiert: 1969 kam er zu einer Wahlveranstaltung in die überfüllte Turnhalle am Main. Uwe Lambinus, ehemaliger SPD-Bundestagsabgeordneter, erinnert sich: „Damals kam auch das Bildungsbürgertum, das sonst nicht zur SPD gegangen wäre.“ Grass habe erst über Gott und die Welt philosophiert und dann die Positionen der Volksparteien zu den verschiedenen Themen verdeutlicht. Für seinen Vortrag habe der Schriftsteller viel Beifall bekommen – „aber mehr als Person und Literat als für seine Inhalte“, vermutet Lambinus.
Nach der Veranstaltung sei man den restlichen Abend beim SPD-Unterbezirksvorsitzenden Fritz Cremer in seinem Lengfurter Kaminzimmer beisammen gesessen und habe diskutiert. Grass sei ein leidenschaftlicher, aber kontrollierter Redner sowie ein unkomplizierter Gesprächspartner gewesen, allerdings auch „einer der wenigen Menschen, die man nie lachen sieht“.
Die 69er Wahlkampftour und eine Pressekonferenz mit Uwe Lambinus' Bruder Heinz hat Grass drei Jahre später literarisch im Bericht „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ verarbeitet hat (siehe Info-Kasten).
Genau zehn Jahre später traf sich der Autor in einem „Wirtshaus am Mainufer“, wie er schrieb, mit Regisseur Volker Schlöndorff, der 1979 gerade den Grass-Bestseller „Die Blechtrommel“ verfilmt hatte. Grass brachte das Buch den Nobelpreis für Literatur ein, Schlöndorff der Film den Auslands-Oscar. Bei den Dreharbeiten hatten beide sich angefreundet.
Grass las Schlöndorff, als er ihn zwischen zwei Lesungen in Lohr und Stuttgart in Marktheidenfeld traf, aus der Rohfassung seines Manuskripts „Kopfgeburten oder die Deutschen sterben aus“ vor.
Der Autor erinnerte sich: „Einige Gäste wunderten sich über den halblauten Vortrag, doch duldete man uns.“ Aus der Verfilmung des eigenwilligen Grass-Werks wurde am Ende aber nichts.
Günter Grass in Lohr und Marktheidenfeld
Eindrücke seiner Wahlkampfreise in Unterfranken aus dem Jahr 1969 hat der Schriftsteller Günter Grass in „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ (1972) festgehalten. Auszüge:
„Zum Beispiel auf Wahlreise in unserem VW-Bus. Zumeist in Gegenden, wo die Sozialdemokraten verängstigt und kopfscheu in der Diaspora leben: gestern in Lohr und Marktheidenfeld.“
„Pressekonferenzen . . . sind wichtig. Das streut, bringt Fotos mit Kandidaten, bleibt hängen als Halbsatz und kostet nichts. Auf Pressekonferenzen lerne ich freundliche, geduckte und herzzerreißend abhängige Journalisten kennen. (Oft schreiben Sie besser, als es die Kopfblattbesitzer erlauben.) Einige geben Tipps.“
„Die von Ort zu Ort anders, aber überall gleichmäßig verfilzte Kommunalpolitik wird mir, weil ich Mief sammle, gut verschnürt untergeschoben: Mitbringsel mit Lokalgeruch. Dankbar lobe ich das . . . verschieden geratene Bier, die ländlichen Weißweine.“
„,Haben Sie noch Fragen?‘, fragt neben mir der Ortsvereinsvorsitzende (Heinz) Lambinus die versammelten Journalisten aus Lohr und Marktheidenfeld und faltet die Rechnung mit Datum. Nachdem ich eine letzte Frage, ,Waren Sie schon einmal in Marktheidenfeld?‘, eindeutig mit ,Nein!‘ beantwortet habe, gilt die Pressekonferenz als beendet; nur noch auf kommunaler Ebene wird Frankenwein getrunken und örtlicher Geniste und Filzvorkommen gedacht. (So schön ist Deutschland. So überschaubar undurchdringlich. So unheimlich harmlos. So überall anders und gleich. So selbstvergessen.)“ Text: abra