
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Ist es der Vater mit seinem Kind? – Ach nee, jetzt erkenne ich ihn an dem komischen Vogel auf seinem Helm, dem Schwan. Es ist der Graf von Rieneck.
Die Entstehung des Adels ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Bis zum 12. Jahrhundert erscheinen die Adeligen in den Quellen nur mit ihrem „Vornamen“, einen Geschlechtsnamen und ein „von“ als Benennung der Herkunft gibt es nicht. Deshalb ist es auch nur schwer möglich, die Herkunft der Adelsgeschlechter, zum Beispiel in Franken etwa der Castell, Henneberg, Hohenlohe, Wertheim und eben der Grafen von Rieneck, klar zu erfassen.
„Findige“ Historiker gehen bisweilen her und konstruieren Stammtafeln, doch bewegen sie sich da auf sehr dünnem Eis. Zu wenig Quellen sind vorhanden, zu viele Personen werden nie genannt, zu wenige Heiraten sind bezeugt. Und selbst wenn man einen Sippen- oder Familienverband halbwegs wahrscheinlich machen kann, dann sagt das nicht viel aus. Denn wie die Herrschaftsbildung und Verteilung in diesen Verbänden funktioniert, ist kaum belegbar.
Man kann diese Sippen als „Clans“ bezeichnen, die einerseits miteinander, andererseits aber auch gegeneinander arbeiten. Der frühe Adel schafft sich seinen Besitz durch mehr oder weniger gewaltsame Akkumulation, und nicht selten durch Heiraten in andere Clans. Hinzu kommen Funktionen im Dienst des Reiches, der Kirche und der Hocharistokratie. Ein „Graf“ ist meistens Amtsträger, und dieses Amt pflegt er dafür zu nutzen, möglichst viel vererbbaren Eigenbesitz zu ergattern: Zwischen einem Amtsträger und einem „Warlord“ verläuft eine nur sehr dünne Grenze.
Die späteren Grafen von Rieneck schufen sich ihre Machtbasis
Und so weiß man auch nicht, wie weit die Macht der späteren Grafen von Rieneck im Bereich zwischen Aschaffenburg und Würzburg zeitlich zurückreicht. Aber man darf annehmen, dass „der Clan“ schon sehr lange Zeit, in Verbindung mit dem Königtum, den Erzbischöfen von Mainz und den Bischöfen von Würzburg, sich eine Machtbasis schuf. Um 1050 „wanderte“ ein Teil aus und erwarb schließlich die Landgrafschaft in Thüringen.

Zentrum der „Rienecker“ ist von Anfang an der Nordspessart und der Raum um Lohr. Hier erscheint um 1100 ein „comes Gerhardus“, an dessen Familienverband spätestens im 11. Jahrhundert „Verwaltungsaufgaben“ im Zusammenhang mit dem Reichs- und Kirchenbesitz am Main und im Spessart übertragen worden waren. Gerhard selbst erreicht den Höhepunkt seiner Laufbahn im Königsdienst, als ihm das Amt des Burggrafen und Hochvogtes des Erzbistums Mainz anvertraut wird.
Damit fungiert er als Kontrollorgan des Herrschers über eine der wichtigsten Städte des Reiches. Ob Gerhard (sehr) eng an den weiteren in diesem Raum sitzenden Adel anzuschließen ist oder „von außen“ kommt, vielleicht eingeheiratet hat, muss offen bleiben. Letztlich spielt es auch eine relativ geringe Rolle, wie und wie eng die einzelnen Adelsfamilien miteinander verwandt waren.
Am Ende seines Lebens stellt sich für Gerhard jedoch das Problem, an wen er seine Grafschaft weitergeben kann, denn seine Nachkommenschaft besteht „nur“ in einer Tochter. Da die weibliche Erbfolge durch das Lehnsrecht dieser Zeit oft noch nicht möglich oder erschwert ist, ergibt sich die Notwendigkeit, einen adäquaten Schwiegersohn zu finden. Dieser wird schließlich Graf Arnold von Loon. Seine Grafschaft in der heutigen belgischen Provinz Limburg, Hauptort Borgloon nordwestlich von Lüttich, liegt von den fränkischen Landen zwar weit entfernt (409 Straßenkilometer Lohr-Borgloon), doch tut dies dem Interesse des Looners an der Heirat mit Gerhards Tochter (ihr Name ist nicht bekannt) keinen Abbruch.
Ob diese Tochter gefragt wurde? War es gar Liebe? Darauf gibt es keine Antwort. Als Gerhard um 1106 stirbt, folgt ihm Arnold in den Mainzer Ämtern wie auch in dem Herrschaftsgebiet am Main nach. Desgleichen regieren Arnolds Sohn, Arnold II., und sein Enkel Ludwig I. beide Grafschaften und amtieren ebenso in Mainz.
Rieneck, benannt nach einer Burg am Rhein
Um 1156/57 tritt nun eine Neuerung ein: Ludwig fügt seiner Bezeichnung als „Graf von Loon“ eine weitere hinzu, er nennt sich nun auch „Graf von Rieneck“. Die Gründe für diese Handlung sind sehr vielfältig und kompliziert; der Name selbst geht auf ein 1150, also nur wenige Jahre zuvor, ausgestorbenes Hochadelsgeschlecht zurück, das wohl mit den Loonern verwandt war, auch wenn es dafür keine eindeutigen urkundlichen Belege gibt. Dieses nannte sich nach seiner Burg am Rhein bei Bad Breisig „von Rheineck“; die Unterscheidung „Rieneck“ und „Rheineck“ ist nur in der neuhochdeutschen Sprache möglich, während im Mittelhochdeutschen die Namen gleich geschrieben wurden (in vielen Varianten) und die selbe Bedeutung trugen.
Graf Ludwig gibt damit der von seinem Großvater erheirateten Herrschaft in Franken einen eigenen Namen, sie heißt fernerhin „Grafschaft Rieneck“. Ganz speziell wird „Rieneck“ auch auf eine Burg und die mit ihr verbundene Siedlung (die beide wahrscheinlich schon lange vorher unter anderem Namen existierten) übertragen: auf Rieneck an der Sinn. Zentraler Ort war jedoch immer Lohr, nur passte da keine Höhenburg hin.
Um 1200 geht das Geschlecht daran, die beiden Grafschaftsteile zu trennen. Zu viele Söhne, zu weite Wege. Ludwig II. erhält 1196/97 Loon, Gerhard III. wird Graf von Rieneck. Gerhard wie auch sein Enkel Ludwig III. erweitern ihren Besitz mit der gleichen Methode, welche schon Graf Arnold von Loon die Herrschaft am Main eingebracht hatte: Sie heiraten Töchter „aussterbender“ Dynastenfamilien.

Gerhard III. schließt um 1200 die Ehe mit Kunigunde von Zimmern und Lauda, Ludwig III. verheiratet sich nach 1243 mit Udelhilt, der Erbin von Grumbach und Rothenfels. Der Gewinn besteht in einem erheblichen Besitzkomplex südöstlich von Tauberbischofsheim, mit dem Zentralort Grünsfeld, und in einem noch wichtigeren im Raum zwischen Maindreieck und Mainviereck mit den Burgen Rothenfels und Burggrumbach. Mit diesen Erwerbungen verdoppelt die Grafschaft Rieneck in etwa ihr „Territorium“.

Besonders der neue Herr auf Rothenfels hat große Ambitionen, und die setzt er sich nicht nur in den Kopf, sondern darauf: Schon seine Vorfahren waren Förderer der Literatur, unterstützten den Dichter Heinrich von Veldeke, Autor des „Aeneasromans“. Sein Wappen in der Manessischen Liederhandschrift zeigt deutlich die Verbindung zu den Grafen von Loon. Ludwig fördert den Starautor seiner Zeit, Konrad von Würzburg, wofür dieser dann in seiner Bearbeitung der Geschichte des Schwanenritters Lohengrin einfügt, die Rienecker würden von diesem abstammen. Und so kommt der Schwan auf den Helm, vorher gab es da nur Windräder, Büffelhörner und eine Art Geweih mit Federbuschen. Ob die Rienecker an diese Abstammung tatsächlich glaubten?
Aufgrund dieser Ambitionen sind die Grafen, vor allem in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts häufig in Fehden und Kriege verwickelt. Das Hochstift Würzburg wehrt sich dagegen, dass Ludwig III. die Erbschaft der Herren von Grumbach und Rothenfels voll antritt, und der Konflikt entlädt sich in Form gewaltsamer Auseinandersetzungen.
Die Grafenbrüder Ludwig III., Gerhard IV. und Heinrich II. versuchen zudem, ihre Grafschaft gegen die Macht zu erweitern, welche gleichzeitig ihrerseits bemüht ist, den Spessart verstärkt unter ihre Kontrolle zu bringen: Mainz. Langwierige Kämpfe 1260-71 bestimmen den gesamten Raum. Sie enden mit der Niederlage der Rienecker, oder besser: mit ihrem Nicht-Sieg. Denn es misslingt ihnen zwar, ihre territorialen Pläne zu verwirklichen, doch dadurch wird ihre Macht nur begrenzt, nicht geschmälert oder gar vernichtet.
Weit ausgedehnte Grafschaft
Auch mit dem Bischof von Würzburg kann man sich allmählich arrangieren, so dass gegen Ende des 13. Jahrhunderts eine gesicherte und weit ausgedehnte Grafschaft besteht. Als rieneckisch zählt ein Großteil des Spessarts, dazu fast das gesamte Gebiet der Hochfläche zwischen Maindreieck und -viereck, Teile des Maindreiecks sowie der Raum um Grünsfeld und Lauda, und daneben existiert Streubesitz von der Nahe bis zum Steigerwald. Zu berücksichtigen ist dabei freilich, dass sich in den meisten Orte auch noch Besitz und Rechte anderer Herrschaftsträger befinden. Es gibt in dieser Zeit kein „geschlossenes Territorium“.
Mit nicht zu viel (um dem benachbarten Hochadel gefährlich zu werden) und nicht zu wenig Macht: so stehen die Rienecker am Ende des 13. Jahrhunderts da. Damit haben sie die ideale Voraussetzung, zur höchsten Position des Reiches aufzusteigen: König zu werden. Graf Gerhard IV., gestorben 1295, war, eventuell schon 1256, oder aber in der unruhigen Zeit nach dem Tode Rudolfs von Habsburg (1291) wie noch andere als Königskandidat gehandelt worden, und ein Teil der Fürsten stimmte für ihn.
Er wurde freilich nicht wirklich der Nachfolger des Habsburgers: Die Krone fiel im Mai 1292 dem Grafen Adolf von Nassau zu. Die Erinnerung daran, dass ein Rienecker zum König gewählt worden war, hielt sich verständlicherweise in der Überlieferung des Hauses, und sie trug zu seinem Ruhme bei.
Zum Autor: Dr. Theodor Ruf ist Kreisheimatpfleger für den Altlandkreis Lohr, er schrieb zahlreiche Beiträge zur Geschichte der Region Main-Spessart. Seine Dissertation verfasste der Historiker über die „Die Grafen von Rieneck“.
Literatur: Im Rahmen dieser Serie wird ein zweiter Teil über die Grafen von Rieneck folgen. Wer schon jetzt mehr wissen möchte findet auf der Website des Geschichts- und Museumsvereins Lohr (http: gmv-lohr.de) unter „Volltexte zur Stadt- und Regionalgeschichte“ die Geschichte der Grafschaft.
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter www.mainpost.de/geschichte_mspL.