
Das, was die Volksbühne Fellen an den beiden vergangenen Wochenenden geboten hat, ist beachtlich: Die Aufführung des Dürrenmatt-Dramas "Der Besuch der alten Dame" ging – sowohl was die Auswahl des Stücks als auch die schauspielerischen Leistungen betrifft – weit über das hinaus, was man gemeinhin von einer Laienspielgruppe erwartet.
Insofern war es nicht nur erfreulich, sondern auch gerechtfertigt, dass alle vier Vorstellungen ausverkauft waren. Was bedeutet, dass im Saal der Familie Haas insgesamt fast 500 Zuschauerinnen und Zuschauer dabei waren. Dass das 1956 in Zürich uraufgeführte Theaterstück beim Publikum gut ankam, zeigte beispielhaft der nicht enden wollende Schlussapplaus der rund 120 Besucherinnen und Besucher der Freitagabend-Vorstellung.
Die Milliardärin will in ihrer Heimatstadt Rache
Zum Inhalt: In der heruntergekommenen und verarmten Kleinstadt Güllen, in der die meisten Leute arbeitslos sind, sorgt der angekündigte Besuch von Claire Zachanassian für große Aufregung. Die Bewohner hoffen, durch die alte Dame, die ihre Kindheit und Jugend als Kläri Wäscher in Güllen verbracht und Geld im Überfluss hat, wieder zu Wohlstand zu gelangen.

Sie ist auch durchaus bereit, ihrer Heimatstadt finanziell unter die Arme zu greifen, allerdings unter einer Bedingung: "Ich gebe Güllen eine Milliarde und kaufe mir dafür Gerechtigkeit", sagt die mondäne Alte im schwarzen Glitzerkleid und erzählt mit versteinertem Gesicht ihre Geschichte.
Der frühere Geliebte von Claire Zachanassian soll sterben
Sie ist 17 und Alfred Ill, der heute einen Krämerladen in Güllen betreibt, noch keine 20, als sie sich verlieben. Doch dann verlässt er die schwangere Kläri. Um das gegen ihn laufende Gerichtsverfahren zu gewinnen, heuert er zwei falsche Zeugen an, die behaupten, ebenfalls mit ihr geschlafen zu haben. Daraufhin wird Kläri entehrt und aus Güllen vertrieben. Ihr Kind stirbt und sie wird zur Prostituierten, später dann zur Milliardärin, indem sie mehrfach hintereinander sehr reiche Männer heiratet.
Was die alte Dame mit Gerechtigkeit meint, sagt sie eiskalt: "Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet."

Zunächst lehnen das die Güllener, zumindest nach außen hin, ab. Ein Indiz, dass sie innerlich den Mord an Alfred Ill für gar keine schlechte Lösung halten, zeigt sich bereits in ihrem Kaufverhalten. Sie haben plötzlich neue Schuhe, nehmen die fettere Milch, den teureren Schnaps und die besseren Zigaretten (ja, geraucht wird viel in dem Stück, allerdings keine echten Kippen).
Die alte Dame selbst hat ihre Heimatstadt ruiniert
Die Versuche des Lehrers, die alte Dame zu "Menschlichkeit" zu bewegen, prallen an ihr ab. "Konjunktur für eine Leiche", lautet nach wie vor ihr Versprechen. Dass ihr Projekt von langer Hand geplant ist, stellt sich im Lauf der Geschichte heraus. Niemand anderes als die alte Dame ist nämlich für die Verarmung Güllens verantwortlich. Sie hat im Lauf der Zeit dort alle Fabriken aufgekauft, um die Stadt zu ruinieren.

Auch in Ills Familie hat sich zwischenzeitlich etwas getan. Die Tochter spielt jetzt Tennis, die Ehefrau hat einen neuen Pelzmantel und der Sohn ein Auto. Natürlich auf Pump, aber bald wird ja alles besser. Alfred Ill begreift, dass seine Situation ausweglos ist.
"Nicht des Geldes, sondern der Gerechtigkeit wegen"
"Ich werde die Vergangenheit ändern, indem ich dich vernichte", sagt die alte Dame zu ihrem einstigen Geliebten. Derweil beschließen die Bürger in einer Versammlung einstimmig, die in Aussicht gestellte Milliarde anzunehmen. "Nicht des Geldes, sondern der Gerechtigkeit wegen", lautet die heuchlerische Begründung.
Sie bilden eine Gasse, durch die Ill laufen muss. Plötzlich liegt er tot am Boden. Herzschlag, heißt es; es handele sich um einen "Tod aus Freude". Wie auch immer: Die Gier hat über die Moral gesiegt. Aus den Lautsprechern ertönt das Lied "Kein schöner Land in dieser Zeit...".