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TUTTLINGEN/GEMÜNDEN
Gemündener mitten im Southside-Chaos
Southside Festival       -  Southside Festival, Neuhausen, Tuttlingen
Foto: Paul Heilgenthal | Southside Festival, Neuhausen, Tuttlingen
Michael Fillies
Michael Fillies
 |  aktualisiert: 01.07.2016 03:36 Uhr

In einem Weltuntergangsfilm wäre es kaum dramatischer zu inszenieren – ein Unwetter, wie es am Freitag das Southside-Festival in Baden-Württemberg heimgesucht hat. Plötzliche Finsternis, Sturm, Regen, Hagelkörner, Blitze und Donner. Mitten drin fünf Burschen aus dem Raum Gemünden (Lkr. Main-Spessart). Anders als 82 andere Festivalbesucher überstehen die Fünf diese Nacht unverletzt. Die Sicherheitsvorkehrungen waren wohl besser als zuvor bei Rock am Ring in der Osteifel, aber keineswegs optimal, so erlebten es die Gemündener.

60000 Festival-Besucher

„Dass keine schwerwiegenden Personenschäden zu beklagen sind, ist das Ergebnis der rechtzeitigen Evakuierung“, hieß es in einer Presseerklärung des Polizeipräsidiums Tuttlingen. Die rund 60 000 Besucher hätten überwiegend diszipliniert den Veranstaltungsort verlassen und sich in Sicherheit gebracht. Die fünf 19-jährigen Gemündener – Nicolas Fella, Paul Heilgenthal, Daniel Niemczyk, David Sauer und Maximilian Zänglein – haben das anders erlebt.

Funkloch und keine Lautsprecher

Besonders ärgert sie, dass Polizei und Veranstalter bereits am Donnerstag von dem bevorstehenden Unwetter gewusst, eine Evakuierung in Erwägung gezogen und zusätzliche Einsatz- und Rettungskräfte zusammengezogen hatten – von alledem ahnten die Unterfranken und wohl die meisten anderen Besucher nichts.

Das sagte ihnen auch keiner, als sie am gut gefüllten Festivalgelände ankamen und für ihre Zelte nur noch am hinteren Ende eines der zwölf provisorischen Campingplätze einen Platz fanden. Mitten im Funkloch, sodass keine Warnungen über Handy zu empfangen waren. Das Festivalradio habe ebenfalls versagt – über das Gelände verteilte Lautsprecher fehlten, so berichten die Fünf.

Flucht nach dem Wolkenbruch

Dass es wahrscheinlich regnen, vielleicht auch gewittern würde, war bekannt, aber nicht, dass sich über Neuhausen ob Eck (Kreis Tuttlingen) ein Unwetter anbahnt und dass deswegen nach Polizeiangaben sogar Meteorologen am Southside-Gelände waren. Um 20 Uhr am Freitag ging ein erster, schwerer Wolkenbruch nieder. Die halbstündige Dusche bei tropischen 31 Grad hätten viele Fans, teils angetrunken, genossen: Sie hätten in Unterhosen im Schlamm getanzt, erzählen die Gemündener, wieder zurück in Unterfranken.

Andere allerdings packten und gingen. Die 19-Jährigen nicht. Sie ahnten nicht, dass das eigentliche Unheil erst im Anmarsch war.

„Pechschwarzer Himmel“

Es kam um 21.30 Uhr. Der Himmel wurde mit einem Mal „pechschwarz“, wie es die Freunde noch nie erlebt hatten. Drei von ihnen rafften die wertvollsten Dinge zusammen und rannten in Richtung eines der drei Notausgänge. Dort standen Polizisten und Feuerwehrleute. Hagelkörner nadelten in die Gesichter, im tosenden Sturm war kaum eine Verständigung möglich. Gegenstände von den Zeltplätzen wirbelten durch die Luft, ebenso Äste und Zweige, erinnern sich die Jugendlichen. „Ich habe einen Feuerwehrmann angeschrien ,Wohin?‘“, erzählt einer. Die Antwort war, bei denen, die sich in ihre Autos geflüchtet hatten, Schutz zu suchen. „Ich war an zehn, 15 Autos – nicht einer hat uns reingelassen“, so die bittere Erfahrung.

Zwischen Autos gekauert

Daraufhin kauerten die Freunde eine Zeit lang zwischen den Autos. Irgendwann flüchteten sie weiter, erreichten einen Bauernhof, in dem sich eine ältere Frau gleich um die Burschen kümmerte und ihnen eine freie Ferienwohnung überließ. Später seien noch zwei völlig aufgelöste Mädchen aufgenommen worden und dann mindestens 30 weitere Flüchtende in einer Scheune untergebracht worden.

Die beiden anderen Gemündener hatten weniger Glück: Nachdem ihnen die Pavillons, unter denen sie hatten aushalten wollen, vom Sturm zerfetzt worden waren, waren sie ebenfalls zu einem Notausgang gerannt und dort von einem Polizisten zu einem Shuttlebus geschickt worden. Nach Polizeiangaben wurden mit diesen Bussen rund 4500 Besucher auf Sport- und Festhallen im Landkreis Tuttlingen verteilt. Dort organisierten Helfer im Lauf der Nacht Getränke und Decken. Ein Schnupfen ist das Resultat dieser Nacht und zum Glück die einzige Beeinträchtigung, die die fünf Freunde erlitten. Andere hatten weniger Glück. 82 Menschen verletzten sich nach Polizeiangaben. Zumeist sollen es Schnittwunden und Stürze bei der Flucht vom Festivalgelände gewesen sein.

Plünderer am Gelände

Am Samstagvormittag fanden die Gemündener wieder zusammen. Sie zogen zum Festivalgelände, um ihre Habe zu bergen. Dort wartete die nächste Enttäuschung: Plünderer. So verloren die Unterfranken nicht nur ihre vom Sturm zerfetzten Zelte, sondern auch eine Transportkarre. Eine weitere Überraschung war, dass viele Besucher einfach abgereist und ihr Hab und Gut offenbar zurückgelassen hatten. Am Nachmittag um 16 Uhr brach das nächste Unwetter über Neuhausen los. Da saßen die Gemündener im Zug in Richtung Heimat.

Festivalkarten – So stehen die Chancen auf Rückerstattung

Das Southside-Festival war vorbei, bevor es richtig begonnen hatte. Welche Aussichten haben die Fans auf Erstattung ihrer Kosten? Der Konzertveranstalter FKP Scorpio hält sich dazu bedeckt. „Wir haben zurzeit andere Baustellen“, sagt Sprecherin Katja Wittenstein.

Schließlich sei das stürmische Wetter auch am Hurricane-Festival im norddeutschen Scheeßel nicht spurlos vorübergegangen: „Wenn wir in Scheeßel und Neuhausen ob Eck aufgeräumt und die Lage analysiert haben, werden wir prüfen, wie wir uns gegenüber den Besuchern des Festivals erkenntlich zeigen können.“ Die Verbraucherzentrale Baden-Württemberg sieht gute Chancen auf eine teilweise Rückerstattung. Mit dem Ticketkauf habe der Besucher einen Vertrag geschlossen, heißt es. Damit sei der Veranstalter verpflichtet, eine Leistung zu erbringen – tut er das nicht, müsse der Kunde nicht voll zahlen. Dabei sei bei einem Ausfall des Headliners eine höhere Rückerstattung zu erwarten als bei der Lokalband. Was also sollen Besucher tun? Die Rechtsexpertin der Verbraucherzentrale rät, Eintrittskarten zu kopieren, die Kopien dem Veranstalter zu schicken und eine anteilsmäßige Rückerstattung zu fordern. brg

 
 
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  • S. K.
    Jeder hat ein eigenes Gehirn
    und darf selber denken.
    Ist aber scheinbar nicht mehr in Mode.

    Einfach alles auf andere abwälzen und dann womöglich
    noch Schadenersatz fordern.

    Wenn ich doch sehe da kommt ein Unwetter auf,
    dann geht ihr daheim auch mit der Familie raus
    zum Sonntagsspaziergang.Ohne Worte.

    Scheinbar verblödet die Menschheit immer mehr
    seitdem sie nur noch mit Wischtelefonen rumrennt!
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  • H. H.
    oder gar mehr große Gefahren in sich bergen, derer sich viele nicht bewusst sind, müsste wirklich spätestens seit der Love-Parade-Katastrophe allen klar sein.

    Das Gelände prophylaktisch evakuieren und dann bleibt das Unwetter aus (oder "moderat")? Na da hätte ich aber die Reaktion der Betroffenen sehen wollen (oder eher lieber nicht). Wie war das bei dem Ding in der Eifel? Die Behörden hätten überreagiert? Tja, "Sicherheit" ist halt ein "undankbares Detail"...

    Ja, und was sollen ein paar mit der Lage tendenziell überforderte Polizisten und (freiwillige?!) Feuerwehrleute tun angesichts zehntausender zum Teil betrunkener panischer Menschen? Die werden heilfroh sein, selber mit dem Leben davonzukommen.

    Ich halte es für höchst problematisch, die eigene Verantwortung verdrängen/ "an der Kasse abgeben" zu wollen. Ein erhöhtes Restrisiko (ähnlich w. z. B. beim Motorradfahren) wird bei sowas immer bleiben. Das muss sich mMn zuallererst jede/r selber klarmachen und sich drauf einstellen.
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