Noah W. wirkt gefestigt. Er redet ruhig, kann sich klar ausdrücken. Für ihn gibt es keinen Zweifel, dass er nicht auf dem richtigen Weg sein könnte. Es ist ein langer Weg – von Heike, so wie ihn seine Eltern getauft haben, zu Noah. Diesen Namen hat er sich selbst gegeben. Auf ihn warten noch schwere Operationen, aber es geht ihm besser, seitdem er sich auf den Weg gemacht hat. „Mein Coming-Out war für mich eine Erlösung“, sagt er.
Gefangen im falschen Körper, so hat der 27-Jährige sein Leben bisher empfunden – schon im Kindergarten, in der Schule und im Berufsleben. „Ich bin jetzt Noah“, sagt er. Alle sollen es hören. Er redet offen über sein Schicksal. „Sie können mich alles fragen“, sagt er bei einem Redaktionsbesuch. Dazu ist Noah in Männerklamotten erschienen. Seine Stimme ist dunkel, ein Bart sprießt im Gesicht. Er wirkt männlich. Nichts deutet darauf hin, dass Noah früher ein Mädchen war. Einen Weg zurück zur Heike gibt es nicht.
Die Pubertät war die „schlimmste Zeit“
Noah berichtet von einer glücklichen Kindheit, die er im Spessart-Städtchen Lohr erlebte. Rückblickend hatte es schon damals Hinweise gegeben, die ihn von anderen Mädchen im gleichen Alter unterschieden. Diese müssen keine Bedeutung haben, sie bestätigen ihn aber in seinem Anderssein. Beispielsweise Puppen. „Die waren nie mein Fall, mein Vater hat mir ein Puppenbett gebaut, das stand immer in der Ecke rum“, erinnert er sich. Lieber habe er Fußball gespielt wie die Jungs. Oder seine Kleidung. „In Mädchen-Sachen habe ich mich immer verkleidet gefühlt.“ Prinzessin wollte er nie sein, dann schon lieber Cowboy oder Pirat.
Dann kam die Pubertät, „die schlimmste Zeit in meinem Leben“, sagt er. Den Übergang vom Mädchen zur Frau wollte er nicht mitmachen. „Ich bekam meine Tage und wollte das nicht“, erzählt Noah. Er habe sich auf die wachsenden Brüste gehauen. Schminken, ja, das habe er mal gemacht, aber dann schnell wieder sein lassen. „Mannsweib“ wurde er daher in der Schule genannt. Er berichtet von massivem Mobbing, denn Mitschüler können grausam sein. Er sei getreten und geschlagen worden.
Begegnung mit einem Transsexuellen
Auf Jungs habe er nicht gestanden, so erlebte er damals noch als Heike seine Sexualität. Er war kein normales Mädchen, das war ihm klar, aber wer er war, das wusste er auch nicht. Zeitweise sei er daher psychiatrisch behandelt worden, aber geholfen habe ihm das nicht.
Als einen Wendepunkt in seinem Leben bezeichnete er einen Aufenthalt in Düsseldorf. Noah, damals noch als Heike, war mittlerweile 19 Jahre alt und hatte dort eine Freundin besucht. Zusammen seien sie zu einem Treffen von Schwulen und Lesben gegangen, eine Umgebung, zu der er sich hingezogen fühlte, „weil die auch nicht der Norm entsprechen“, sagt Noah. Bei dem Treffen habe er einen Transsexuellen kennengelernt, einen Mann, der früher eine Frau war, und der ihm von seinem Leben erzählte. Da war Noah klar, dass sie das gleiche Schicksal teilen. „Da wusste ich, das ist auch mein Weg.“ Er ist im falschen Körper. Diese Erkenntnis habe er als ein Glücksgefühl empfunden. Endlich habe er eine Antwort auf seine Fragen gehabt. Doch die Glücksgefühle stießen hart an die Realität. Bei den wenigen, die er in seine Überlegungen eingeweiht hat, sei er nur auf Unverständnis gestoßen. Heike in Wahrheit ein Mann? Seine Mutter habe dies als „Hirngespinst“ abgetan. Er habe ihr das nicht übel genommen, weil er weiß, wie schwer das zu begreifen ist.
Unterstützung erhoffte er sich von einem Arzt und Psychiater. Aber auch dort fühlte er sich nicht verstanden. Seine damals beste Freundin habe ihm sogar die Freundschaft gekündigt. „Gott hat uns so geschaffen, wie wir sind. Du wirst bestraft werden“, sei ihre Meinung dazu gewesen. „So habe ich das zwei Jahre in mich hineingefressen“, sagt Noah. Von seiner Überzeugung, ein Mann zu sein, habe er aber nicht abgelassen. Durch umfangreiche Recherchen im Internet fühlte er sich bestätigt.
18-monatige Psychotherapie
Geholfen hat ihm in dieser Lage der Besuch einer Psychiaterin in Würzburg. Schon die erste Begegnung war für ihn beeindruckend. Sie habe ihn nur angeschaut und gesagt: „Ich weiß, warum Sie hier sind.“ Sofort habe er sich verstanden gefühlt. Es wurde eine 18-monatige Psychotherapie vereinbart. Die ist Voraussetzung für eine Geschlechtsumwandlung. Sie soll dazu dienen, die Diagnose Transsexualität zu sichern, schließlich handelt es sich bei einer Hormon-Therapie und den möglichen Operationen um schwerwiegende Eingriffe, die nicht aus einer Laune heraus vollzogen werden dürfen.
Nach einem Jahr Therapie bekam Noah seine erste Testosteron-Spritze. Das war dann auch die Zeit, in der er sein Coming-Out im Jahr 2012 hatte. Noah war mittlerweile 22 Jahre alt. Vor diesem Moment habe er immer Angst gehabt, sagt er. Umso überraschter war er, dass die Reaktionen fast ausschließlich positiv gewesen seien. Viele haben ihn bestärkt. „Ja, du warst nie ein typisches Mädchen“, oder „das haben wir immer schon gewusst, dass du ein Junge bist“ seien einige der Kommentare gewesen. Auf seiner Arbeitsstelle habe er seinen Chef gebeten, dies den Kolleginnen und Kollegen mitzuteilen. Heike ist jetzt Noah und alle haben dies akzeptiert. Den Name Noah habe er sich gegeben, weil dieser ihm vom Klang gefallen habe. Schwerer habe sich mit seinem neuen Leben sein Vater getan. Auch dafür hat Noah Verständnis: „Ich war für ihn die einzige Tochter.“ Aber auch die Eltern stellen ihn jetzt als ihren Sohn Noah vor.
Bartwuchs nach Testosteron-Spritzen
Mittlerweile bekommt Noah schon im fünften Jahr die Testosteron-Spritzen. Die erhoffte Wirkung stellte sich ein. Ein Bart sprießt in seinem Gesicht, die Stimme ist dunkel und die Muskeln haben sich gestärkt. Die Brüste hat er sich amputieren lassen, aber er hat noch schwierige Operationen vor sich. „Ich bin unten ja noch eine Frau“, sagt er ohne Scheu. Möglich sei der Aufbau eines Penis mit Haut vom Unterarm. Dies sei aber eine schwierige Operation, bei der es keinesfalls sicher ist, ob sie funktioniert. Alternativ dazu gebe es noch den kleinen Aufbau, bei der die Harnröhre verlängert wird. Dann ist es möglich, wie ein Mann auf die Toilette zu gehen.
Die Zusage der Krankenkassen für die Operationen liegen vor. „Aber ich habe Respekt und Angst davor“, sagt er. Nicht jeder Transsexuelle würde sich einer Operation unterziehen. Er habe diese Frage für sich noch nicht entschieden.
Derzeit arbeitet er als Lagerist, hofft aber noch auf eine Ausbildung als Mode-Verkäufer. Seit einem Jahr habe er auch eine Freundin, sagt er. Vielleicht ziehen sie einmal zusammen, wenn sich die Beziehung gefestigt hat. Er kann weder Kinder zeugen noch kriegen, aber den Wunsch nach einer Familie habe er trotzdem nicht aufgegeben. Das wäre ein Traum. Noah will darum kämpfen, wie er bislang immer für seinen Weg gekämpft hat. Es ist ein langer Weg.
Transsexualität
Von Transsexualität spricht man, wenn ein als körperlich männlich definierter Mensch sich als Mädchen beziehungsweise Frau fühlt, während ein als weiblich angesehener Mensch als Junge oder Mann leben möchte. Transsexualität ist der Wunsch, ein Leben im anderen Geschlecht zu führen.
Im Gegensatz zum Transvestitismus reicht es den Betroffenen nicht, nur Kleidung des anderen Geschlechts zu tragen, sondern aufgrund eines sehr starken inneren Leidensdrucks wünschen sie eine weitestgehende körperliche und soziale Angleichung an das empfundene innere Geschlecht.
Der Begriff Transsexualität macht im Gegensatz zu den Begriffen Heterosexualität und Homosexualität keinerlei Aussage über die sexuelle Orientierung der Betroffenen. Die Begriffe Transsexualität, Transgender oder Transidentität werden meist synonym verwendet.
Die Ursachen für Transsexualität sind unbekannt. Manche Wissenschaftler gehen davon aus, dass der Fötus im Mutterleib durch gegengeschlechtliche Hormone beeinflusst wird, andere sehen Veränderungen der Hirnstruktur als Auslöser. Auch soziale und psychische Faktoren können eine Rolle spielen; etwa dann, wenn Eltern lieber ein Kind des anderen Geschlechts gehabt hätten und dies das Kind bewusst oder unbewusst spüren lassen. Hinreichend belegt ist keine dieser Thesen, die Ursachen für Transsexualität liegen weiterhin im Dunkeln. gi