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MAIN-SPESSART
„Für“ mit „f“ oder mit „v“? Ein Legastheniker erzählt
Björn Kohlhepp
 |  aktualisiert: 03.12.2019 09:49 Uhr

Er muss kurz überlegen, ob man „für“ nun mit „f“ oder mit „v“ schreibt. Durch eine kleine Eselsbrücke kommt er schließlich drauf: „f“ ist richtig. Bei „hinten“ hat er sich inzwischen gemerkt, dass es mit „t“, nicht mit „d“ geschrieben wird. Der 52-Jährige aus dem Raum Marktheidenfeld leidet unter Legasthenie, einer Lese- und Rechtschreibstörung. Früher in der Schule hieß es immer nur: „Der ist zu dumm zum Schreiben.“ Er fühlte sich immer als der schlechteste Schüler. Heute weiß er, dass er nicht dumm ist. Bei ihm klappt es lediglich mit dem Lesen und Schreiben nicht so. Dafür hat er andere Talente.

Für eine Selbsthilfegruppe im Landkreis sucht der 52-Jährige Menschen mit demselben Problem. Dort soll nicht nur geredet, sondern auch gezielt gearbeitet werden, da Verbesserungen möglich seien. So kennt er es schon aus einer Gruppe in Würzburg. Simone Hoffmann vom BRK-Selbsthilfebüro, die ihn bei seinem Vorhaben unterstützt, sagt: „Das ist ein extrem schambehaftetes Thema.

“ Das zeigt sich auch am Beispiel des 52-Jährigen: Außer seiner Familie weiß nur ein Freund von der Legasthenie. Der Betroffene möchte deshalb in diesem Artikel anonym bleiben.

Die Rechtschreibprüfung ist ein Segen, aber manchmal ist sie ratlos

Etwas mit der Hand zu schreiben, ist für den Handwerker immer noch ein Graus. Da ist er froh, dass es heutzutage Computer mit Schreibprogrammen gibt, die Texte eine Rechtschreibprüfung unterziehen. „Manchmal muss ich fünfmal ausprobieren, bis die Rechtschreibprüfung sagt, es ist OK“, erzählt der Betroffene. Manchmal verliert er nach zigfachem Ausprobieren auch die Geduld und lässt das Wort, dem offenbar nicht zu helfen ist, eben falsch und rot unterringelt stehen.

Vor allem aus dem Internet kennt man Sätze wie: „Ncah enier Sduite an enier elingshcen Unvirestiät ist es eagl, in wlehcer Rienhnelfoge die Bcuhtsbaen in eniem Wrot sethen.“ Als der 52-Jährige einmal in einem Freizeitpark einen solchen Text las, hatte auch er keine Probleme damit – er merkte aber erst hinterher, dass alles falsch geschrieben war.

Er galt als „faul“ und „dumm“

Er hatte es nicht leicht in der Schule. Schon im Zeugnis der zweiten Klasse stand: „Er ist faul und ohne Ehrgeiz.“ In der dritten Klasse hieß es: „Selbst in abgeschriebenen Texten finden sich unzählige Fehler.“ Ihm wurde mangelnde Konzentration und Mitarbeit vorgeworfen. Als in der Hauptschule der Englischunterricht begann, war auch das eine Katastrophe. „Faul“ und „dumm“, mit diesen Zuschreibungen musste er leben. Geglaubt habe an ihn in der Schulzeit nur sein Physiklehrer. Der Lehrer fragte nach Schulaufgaben: „Was heißt das? Was heißt das?“ In dem Fach sei er, dem Lehrer sei Dank, einer der Besten gewesen.

Dass er als dumm angesehen wurde, habe ihn sehr geprägt. Sein Selbstbewusstsein litt. Im Gespräch im BRK-Selbsthilfebüro in Karlstadt merkt man ihm das nicht an. Aber sogar in der Lehrzeit habe er in Deutsch lieber eine 6 kassiert, als ein Referat zu halten. Lieber habe er es in Kauf genommen, keine Lehrstelle zu finden, als einen handschriftlichen Lebenslauf zu schreiben. Einen schrieb er dann doch. Weil er seinen künftigen Arbeitgeber beim praktischen Einstellungstest überzeugen konnte, wurde er genommen.

Zusätzlich Aufmerksamkeitsstörung und kein Orientierungssinn

Der verschlossene Junge litt zusätzlich an einer Aufmerksamkeitsstörung, was seinen Recherchen zufolge oft Hand in Hand mit Legasthenie gehe. Wenn er etwa einen Zeitungsartikel lese, könne er – außer es interessiere ihn brennend – hinterher nicht mehr sagen, was eigentlich darin stand. Bei Meldungen im Radio könne er sich noch so sehr vornehmen, dass er genau hinhört, wie morgen das Wetter wird oder ob gerade Stau auf der A7 ist – bis es so weit ist, sind seine Gedanken schon wieder abgeschweift. Aber er glaubt, dass das in der Evolution manchmal auch ein Vorteil war, etwa weil man sich dadurch nicht so stark auf etwas konzentrierte, dass einen von hinten ein Löwe auffressen konnte. Dass er obendrein keinen Orientierungssinn hat, komme seines Wissens häufig bei Menschen mit Legasthenie vor.

Die ist offenbar vererbbar. Sein Bruder war betroffen. Eine seiner beiden Töchter habe eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, die andere die verwandte Dysgraphie, eine starke Sauklaue.

Buch machte ihm Mut, zu eigenen Ideen zu stehen

Erst mit etwa 40 Jahren, nach der Lektüre eines Buches über Legasthenie, kam ihm: Ich bin nicht allein. Als er dort las, dass angeblich auch Einstein, Churchill und Ford Legastheniker waren, habe er sich getraut, bei seinem Arbeitgeber Verbesserungsvorschläge zu machen. Diese wurden auch umgesetzt.

Als es dann bei seiner zweiten Tochter in der Schule hieß, sie habe eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, begann er, sich näher mit seinem Problem auseinanderzusetzen. Für Eltern betroffener Kinder gibt es in Lohr bereits eine Elterngruppe Legasthenie.

Selbsthilfegruppe soll Schreibfähigkeit und Selbstvertrauen stärken

Selbst ging der 52-Jährige zur Selbsthilfegruppe in Würzburg. Mit allerlei Übungen werde dort die Schreibfähigkeit und das Selbstvertrauen gestärkt. Eine Teilnehmerin etwa wollte, dass die Vorhänge zugezogen werden, als sie im ersten Stock etwas an die Tafel schreiben sollte. So sehr habe sie sich geschämt.

Durch eine Lehrerin, die die Gruppe unterstützt, habe der 52-Jährige zum ersten Mal verstanden, was es mit Groß- und Kleinschreibung auf sich hat. Solche Übungen und Unterstützung könnte er sich auch für die zu gründende Gruppe im Landkreis vorstellen.

Der Betroffene denkt in Bildern

Mit Buchstaben kann er wenig anfangen, dafür denkt er in Bildern. Wenn er das Wort „Haus“ lese, habe er das Bild eines Hauses vor Augen. Das und dass es für Wörtchen wie „das“ kein Bild gibt, mache das Lesen oft langwierig. Hingegen habe er ständig neue Ideen und auf der Arbeit neue Herangehensweisen, die Kollegen erst einmal als ungewöhnlich empfinden könnten. „Wenn ich eine Idee habe, dann ist die im Bild schon da“, erklärt er. Diese kreative Herangehensweise habe er auch bei seiner Tochter mit Schreibschwäche festgestellt. Er fragt sich, ob Arbeitgeber deshalb künftig auf die Idee kommen könnten, gezielt Legastheniker einzustellen, damit diese für kreative Ideen sorgen.

Kontakt: BRK-Selbsthilfebüro in Karlstadt, Tel. (0 93 53) 98 17 86, selbsthilfe@kvmain-spessart.brk.de. Anfragen werden diskret behandelt.

„Manchmal muss ich fünfmal ausprobieren, bis die Rechtschreibprüfung sagt, es ist OK.“
Der Betroffene über die Rechtschreibprüfung in Schreibprogrammen
 
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