Staat und Gebietskörperschaften sollten öffentliche Aufträge nur noch an Firmen mit Tarifbindung vergeben. Diese Forderung hat Percy Scheidler, der 1. Bevollmächtigte der IG Metall Aschaffenburg, bei der Maikundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes am Mittwoch auf dem Marktplatz erhoben. Die Veranstaltung war mit rund 150 Personen gut besucht.
Die Menschen sind nach Scheidlers Worten am Limit: "Während die Inflation ihre Löhne auffrisst, müssen sie vielerorts darum kämpfen, überhaupt einen Tarifvertrag zu bekommen." Vor 20 Jahren hätten noch rund 70 Prozent der Beschäftigten in Bayern von einem Tarifvertrag profitiert. Im vorigen Jahr seien es nur noch 47 Prozent gewesen.
Deshalb sei für die Gewerkschaften klar: "Wir brauchen eine Tarifwende." Die Arbeitgeber müssten ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Bei der Stärkung der Tarifbindung müsse die öffentliche Hand mit gutem Beispiel vorangehen. In vielen Amtsstuben herrsche immer noch das Motto "Hauptsache billig".
Entgangene Steuern
"Wer für unsere Kinder Schulgebäude baut, Essen kocht, Klassenzimmer sauber macht oder den Müll abholt, muss fair bezahlt werden", forderte der kürzlich wiedergewählte 1. Bevollmächtigte. Tarifflucht verursache einen volkswirtschaftlichen Schaden in Milliardenhöhe durch entgangene Steuern und Sozialabgaben.
Lobend äußerte sich Scheidler über den Stadtrat Aschaffenburg, der im Februar beschlossen hatte, nur noch an tarifgebundene Firmen Aufträge zu vergeben. Der Freistaat brauche ein Faire-Löhne-Gesetz. Wer öffentliche Aufträge haben wolle, müsse seine Beschäftigten ordentlich bezahlen.
Der 1. Mai müsste nach Scheidlers Worten eigentlich "Tag der Arbeitszeit" heißen, denn er gehe auf den Kampf amerikanischer Gewerkschaften für die Senkung der täglichen Arbeitszeit auf acht Stunden zurück. Das Thema habe neue Bedeutung durch die beschleunigte Verdichtung und Entgrenzung der Arbeit erfahren.
Laut Scheidler weisen die Arbeitszeiten in Deutschland entgegen den Behauptungen der Arbeitgeber heute schon eine hohe Flexibilität auf. Allerdings habe die Flexibilisierung tendenziell zu einer Verlängerung der Arbeitszeiten geführt. Folgen seien eine starke Arbeitsverdichtung und eine hohe psychische Belastung der Beschäftigten.
Stress ist Massenphänomen
Stress bei der Arbeit und Schwierigkeiten beim Abschalten in der Freizeit seien zu einem Massenphänomen geworden. Darunter litten ehrenamtliches Engagement und soziale Aktivitäten. Eine Verkürzung der Arbeitszeiten müsse unter den Vorzeichen von Digitalisierung und Automatisierung gerecht erreicht werden.
Defizite machte Scheidler im Freistaat bei der Regional- und Strukturpolitik aus. Daseinsvorsorge werde in Bayern nicht nach Notwendigkeit betrieben, sondern nach Gutsherrenart. Der Gewerkschaftsfunktionär verwies auf fehlenden bezahlbaren Wohnraum, Defizite bei Energieversorgung und Glasfaserausbau, Schwächen bei der Erhaltung des Straßennetzes und einen dürftigen öffentlichen Personennahverkehr vor allem auf dem Land. Der DGB Bayern sehe daher einen "riesigen Investitionsbedarf", den man nicht dem freien Wettbewerb überlassen könne.
EU hat viel gebracht
Zur Europawahl am 9. Juni erklärte Scheidler, vieles, was nicht funktioniere, werde der EU in die Schuhe geschoben. Doch tatsächlich habe die EU den Beschäftigten viel gebracht, etwa durch die Richtlinien über angemessene Mindestlöhne, für bessere Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten und mehr Lohntransparenz.
Europa lege mehr denn je die Regeln fest, die direkt den Arbeitsalltag der Beschäftigten beträfen. Ein wirtschaftlich starkes Europa müsse auch immer ein sozial starkes Europa sein. Die Menschen sollten wählen gehen und für eine demokratische Partei stimmen.
Lohrs 3. Bürgermeisterin Ruth Steger beschäftigte sich in ihrem Grußwort mit dem DGB-Maimotto "Mehr Lohn, Freizeit, Sicherheit". Viele Beschäftigte würden nicht angemessen entlohnt, kritisierte sie und forderte: "Jeder sollte von seiner Arbeit ein anständiges Leben führen können." Freizeit sei Teil eines erfüllten Lebens, die Beschäftigten bräuchten genügend Zeit für Erholung und private Belange.
Wegen der Transformation in eine klimaneutrale und digitale Zukunft gibt es nach Stegers Worten viele verunsicherte Menschen. Solidarität und Engagement seien in Krisenzeiten unverzichtbar. Das Grundgesetz werde in diesem Monat 75 Jahre alt. Es sei eine "Erfolgsgeschichte, aber keine Selbstverständlichkeit".
Rund um den Marktplatz hatten verschiedene Parteien, Einzelgewerkschaften, Amnesty International und das Lohrer Jugendzentrum Stände aufgebaut. Für den musikalischen Rahmen der Kundgebung und der anschließenden Maifeier sorgte der Liedermacher Kai Höfling. Dietrich Lauter, einer der Organisatoren, machte auf eine Kundgebung in Lohr für ein demokratisches Europa am 8. Mai ab 18 Uhr auf dem Parkplatz hinter der Stadthalle aufmerksam.