Es ist genug. Ich kann nicht mehr.“ Fünf Jahre lang war Joseph auf einer Ölbohrinsel im Golf von Persien zuständig für Gesundheit, Sicherheit und Umwelt; er hat in einem Container gehaust, nebenbei studiert, im Urlaub durchgearbeitet. Abends, oft bis Mitternacht, betrieb er mit einem Partner zudem eine Wäscherei. Doch das Geld reichte noch immer nicht, um eine Familie zu ernähren. Daran änderte sich auch nichts, als er es im Hafen seiner Heimatstadt Bushehr versuchte. Sein Entschluss stand: „Pack alles Wichtige in Deinen Rucksack – wir gehen!“, sagte er Mariam, die er zwei Jahre vorher geheiratet hatte.
Das war vor einem halben Jahr. Die beiden Ingenieure aus dem Iran wagten den Weg, der so manchem Flüchtling aus dem nahen Osten das Leben kostete: im Schlauchboot übers Mittelmeer nach Europa. Im April sind der 35-Jährige und seine 23-jährige Frau gut 6000 Kilometer von der Heimat entfernt in Lohr gestrandet.
Die hellblaue Jeans, die er trägt, ist frisch gewaschen und gebügelt. Joseph krempelt den Bund um und zeigt auf ein ausgefranztes Loch: Hier, in der Doppelnaht, hatte er sein Geld versteckt, als sie am 17. November aufbrachen. Jeder zweite in dem Flugzeug nach Istanbul war ein Flüchtling, schätzt er. Den Schleppern in der türkischen Hauptstadt zahlten sie 1200 Dollar pro Person. Mit dem Bus die 500 Kilometer nach Izmir, mit dem Auto 100 Kilometer in die Hafenstadt Çeºme.
Das Schlauchboot, acht Meter lang, mit 70 Menschen vollgestopft, legt ab in stockfinsterer Nacht. Josephs Fuß, eingequetscht von Gepäck und Passagieren, läuft schwarz an. Die See ist rau. „Zweimal wären wir fast gekentert“, schildert Joseph. Auch damit, mit dem Schlimmsten, haben die beiden gerechnet, ihre Jacken deshalb in die Rucksäcke gestopft, um notfalls im Wasser nicht nach unten gezogen zu werden. Zweieinhalb Stunden dauert das Martyrium. Dann sind sie am Etappenziel: auf der griechischen Insel Chios, in Europa.
Freiwillige aus Deutschland versorgen die Flüchtlinge mit Decken, Kleidung, Essen und einer Karte, die zum Camp führt. In diesem „big saloon“, einer großen, leeren, schmutzigen Halle, halten sie es nur eine Nacht aus. Mariam wird krank. Fotografiert, registriert, erhalten sie vorläufige Papiere. Eine Nacht zum Erholen im Motel, dann mit der Fähre nach Athen. Die Busfahrt nach Mazedonien kostet 35 Euro, dauert eineinhalb Tage.
An der Grenze filmen und fotografieren Journalisten die Flüchtlingsmassen. Joseph und Mariam sehen Menschen, die sich die Lippen zugenäht, mit Blut Parolen auf die Haut geschrieben haben. Der Zug durch Serbien ist proppenvoll. „Du konntest Dich nicht bewegen.“ Kein Essen, kein Trinken, keine Toilette. Mit dem Bus durch Slowenien, mit dem Zug nach Österreich, schließlich München. Das Aufnahmelager in Zirndorf ist voll. Nach zwölf Tagen kommen Joseph und Mariam in Scheinfeld (Mittelfranken) unter.
Bereits dort fangen sie an, Deutsch zu lernen. Beide sprechen gut Englisch, kennen also das lateinische Alphabet, tun sich leichter als viele andere. Joseph schätzt, dass 90 der 100 Flüchtlinge in der Gemeinschaftsunterkunft am Sommerberg nur Arabisch sprechen und schreiben können.
Joseph und Mariam wollen möglichst schnell raus dort, wollen arbeiten, auf eigenen Füßen stehen. Doch kann es noch Monate dauern, bis ihnen das gewährt wird – eine Geduldsprobe. Freiwillige helfen, ihr Deutsch zu verbessern. Der strukturierte Kurs am bfz beginnt jetzt im Juni. Dennoch bemühen sich beide um Anschluss: Sie waren unterwegs mit den Wombacher Radlern, zeigen sich bei Festen. Joseph als ausgewiesener Experte hat sich bei Feuerwehr und THW vorgestellt. Anschluss gefunden haben sie auch in der evangelischen Kirchengemeinde.
Denn an Ostern ließen sich die beiden taufen. Nicht in Scheinfeld, sondern in einem Nachbarort. Möglichst wenige sollten es mitbekommen. Denn eine Rückkehr in ihre Heimatländer ist für Konvertierte riskant. Im Iran droht Muslimen, die sich vom Islam abgewandt haben, die Todesstrafe. Auch in Deutschland werden solche Apostaten hie und da von gläubigen Muslimen angefeindet. Deshalb wollen die beiden auch nicht ihre echten Namen gedruckt wissen.
Mit dem Christentum sympathisiert Mariam schon lange. Ihre besten Freundin lebte es heimlich. Ihr Vater „glaubte an nichts“, sagt sie. Aber er habe keine Wahl gehabt: Wer im Iran nicht muslimisch lebe, bekomme keine Arbeit, könne nicht studieren. Internet-Recherchen nach anderen Religionen würden geblockt. „Sie zwingen Dich, Moslem zu sein.“ Christen hingegen „laden Dich nur ein. Wenn Du kommst, schreiben sie Dir nichts vor“, hat sie so erfahren. „Sie forschen Dich nicht aus“, ergänzt Joseph. „Das ist ein guter Weg.“
So weltoffen die beiden auftreten, so konservativ kamen sie zueinander. Josephs indischer Nachname verrät Migrationshintergrund: Sein Ur-Urgroßvater stammte aus der damaligen englischen Kronkolonie. Doch beschreiben beide ihre Familien als alteingesessen und angesehen. Beide legen Wert auf gutes Benehmen, betonen sie mehrfach. Obwohl sie in der 170 000-Einwohner-Stadt Bushehr nur wenige hundert Meter auseinander wohnten, kannten sie sich nicht: Mariam, die Tochter eines Notars und einer Biologin, und Joseph, dessen Vater als Architekt große Bauprojekte leitete. Ein gemeinsamer Freund stellte den Kontakt zwischen beiden Familien her. Mariam wurde Josephs Mutter vorgestellt, es folgte ein Familientreffen. „Joseph sieht meinem Vater ähnlich und benimmt sich auch wie er“, erzählt Mariam. Zwei Monate später heirateten sie. Viermal musste jeder „Ja“ sagen. Koran-Suren wurden gebetet, über ihren Köpfen nach iranischem Brauch Zucker in ein Tuch zerrieben, auf dass dieser die Beziehung versüße.
Sie sind geflohen vor dem Druck, den sie von allen Seiten verspürten. „Das ist Methode der Regierung“, sagt Joseph: „Dich rund um die Uhr beschäftigen, damit Du keine Zeit zum Denken hast.“ Das Leben in relativer Freiheit ist jedoch noch nicht süß. Das Warten auf Papiere zermürbt. „Wir sind müde, haben keine Energie“, sagt Mariam. „Die Leute brauchen Kontakte, das ist so wichtig“, spricht Joseph für viele im Camp. „Es war so schwer für sie, ihre Familien zu verlassen.“ Umgekehrt spürt er, dass viele Lohrer etwas tun wollten, aber nicht wissen, wie sie helfen können, was Flüchtlinge brauchen. Eine Paten-Vermittlung könnte hilfreich sein, meint er. „Kleidung und Essen sind nicht alles.“