Zwei Monate nach dem Atomreaktor-Unglück in Fukushima im März 2011 gründete sich die Bürgerenergie Retzstadt. Die Katastrophe in Japan war der Anfang vom Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie. In Retzstadt fiel das Gründungsdatum aber nur zufällig damit zusammen: "Mit den Vorbereitungen haben wir über ein Jahr vor der Gründung angefangen", erzählt der Retzstadter Bürgermeister Karl Gerhard. Er ist Aufsichtsratsvorsitzender der Bürgerenergiegenossenschaft und stieß das Thema damals im Ort an.
Heute ist die Energiewende durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine wieder in aller Munde. Viele Energiegenossenschaften werden gegründet, um unabhängiger von großen Konzernen und den hohen Energiepreisen zu werden. Seitdem bekomme er auch vermehrt Anfragen von anderen Gemeinden, die sich Tipps holen wollen, berichtet Gerhard. Doch vor 12 Jahren war die Bürgerenergie Retzstadt noch eine der ersten ihrer Art im Landkreis Main-Spessart. Mit 128 Mitgliedern startete die Genossenschaft im Mai 2011, heute sind es knapp 290. Über eine halbe Million Euro an Kapital haben sie insgesamt eingebracht.
Der Idee zur Bürgerbeteiligung kam Gerhard bereits bei der Einführung der EEG-Umlage im Jahr 2000, die den Ausbau Erneuerbarer Energien finanzieren sollte. Die Bürger müssen von der Energiewende profitieren, um die Akzeptanz von Windrädern und PV-Anlagen zu erhöhen, findet Gerhard. "Wenn man privat keine Solaranlage installieren konnte, hat man nur die EEG-Umlage gezahlt. Wo soll da die Akzeptanz herkommen?", fragte er sich. Wer dagegen Mitglied einer Energiegenossenschaft ist, wird finanziell beteiligt und bekommt eine Ausschüttung aus den Projekten. "2020 haben wir zum Beispiel 8,5 Prozent Dividende ausgeschüttet", erklärt Gerhard. Das sei ein gutes Jahr gewesen.
Schon mit 500 Euro kann man sich an der Bürgerenergie beteiligen
"In den Vorgesprächen haben wir mit Partnern beleuchtet, welches Modell für uns das richtige ist, eine Genossenschaft oder eine GmbH & Co. KG", erzählt Marco Keller. Er ist seit der Gründung Vorsitzender der Bürgerenergie und auch Mitglied des Gemeinderats. Für eine Genossenschaft haben sich die Retzstadter vor allem entschieden, da so alle Mitglieder das gleiche Stimmrecht haben und eine Beteiligung schon mit einem kleinen Betrag möglich ist.
Schon mit 500 Euro kann man einsteigen. Als Dachorganisation gibt es den Genossenschaftsverband, der auch berate. Die Rechtsform sei sehr seriös und angesehen, bedeute aber auch einen großen bürokratischen Aufwand, so Keller. Für die Aufstellung der Satzung hat man sich in Retzstadt deshalb die Hilfe eines Juristen geholt. "Die Gründungsversammlung war wie eine kleine Kommunalwahl", erinnert sich Gerhard.
"Wir haben die Mitstreiter so ausgesucht, dass wir Menschen mit verschiedenem Background hatten", erzählt der Vorsitzende. Im Aufsichtsrat saß ein Steuer- und Finanzexperte, jemand aus der Landwirtschaft war an Bord, genauso wie Leute, die bereits privat eine PV-Anlage hatten. "Sich breit aufstellen und mit regelmäßigen Treffen die Fähigkeiten zusammenzubringen, das war entscheidend", sagt Keller.
Wichtig sind laut Marco Keller konkrete Projekte von Beginn an
Im Rückblick macht Keller einen weiteren großen Erfolgsfaktor aus: "Die Basismotivation ist gut. Aber die Genossenschaft braucht von Anfang an Projekte." Das sei wichtig, um Bürger zum Mitmachen zu überzeugen und damit es vorangehe. So werde das Projekt greifbar. In Retzstadt wurden als Startprojekt mehrere Lagerhallen mit PV-Anlagen ausgestattet. Dafür musste erst noch ein Stromanschluss außerhalb des Ortes gelegt und die teils asbesthaltigen Dächer saniert werden. "Wir haben die Dächer gepachtet, die Eigentümer haben ein neues Dach bekommen", sagt Keller. Nur wenige Monate nach der Gründung wurden so schon die ersten Solaranlagen montiert.
Auch die Dächer der Grundschule und des Kindergartens hat die Gemeinde kurz nach der Gründung an die Genossenschaft verpachtet. Bis Ende des Jahres mussten die Anlagen dort ans Netz gehen. "Sonst wäre die EEG-Vergütung gesunken", so Gerhard. Damals wurde diese noch jedes Jahr zum Jahresende abgesenkt, erklärt Keller.
Bürger-Windpark war das nächste Großprojekt in Retzstadt
In Retzstadt war das Interesse der Bürger von Anfang an hoch. "Wir hatten dadurch das 'Problem', dass wir gar nicht alles investieren konnten", so Keller. Mit dem übrig gebliebenen Kapital und mit den bereits fließenden Erträgen aus den umgesetzten Solarprojekten, wurde mit einer eigenen GmbH der Windpark zwischen Retzstadt und Binsfeld als nächstes großes Projekt angegangen. Die Genossenschaft ist daran als Kommanditist beteiligt. "Windräder sind natürlich eine ganz andere Hausnummer als PV-Anlagen", ergänzt Gerhard.
Nach zahlreichen Gutachten und Flächenuntersuchungen wurden im November 2013 die Anträge für sieben Windräder gestellt. Gerade noch rechtzeitig, denn im Januar 2014 wurde die 10H-Regel in Bayern eingeführt. Der Abstand der Windräder zum nächsten Wohnhaus beträgt jedoch nur einen Kilometer – so wie es auch der Flächennutzungsplan der Gemeinde festlegt.
Genossenschaft braucht Partner und Fachfirmen
Was den Arbeitsaufwand für den ehrenamtlichen Vorstand und Aufsichtsrat angeht, muss man laut Keller unterscheiden: "Am Anfang ist der Aufwand enorm. Aber wenn das Projekt läuft, ist es 'nur noch' der Verwaltungsaufwand", so Keller. Es sei aber auch eine große Verantwortung gegenüber den Bürgern, denn schließlich investiere man deren privates Geld.
Außerdem brauche eine Genossenschaft immer Partner, Fachfirmen oder Ingenieurbüros, mit denen sie die Projekte gemeinsam entwickele. Die Genossenschaft allein könne das nicht stemmen. "Das ist dann auch der Flaschenhals, denn viele Firmen sind ausgebucht", sagt Gerhard. Gerade sei die Gemeinde am Thema Nahwärme-Netz dran und dafür im Gespräch mit einer Firma aus Bettingen. Der Gemeinderat habe für die Zusammenarbeit einen Beschluss gefasst, doch die Firma komme gerade vor lauter Anfragen nicht hinterher, so Gerhard.
Neue Mitte in Retzstadt könnte das nächste Projekt der Genossenschaft sein
Welche Projekte möchte die Genossenschaft in den kommenden Jahren angehen? Größere Freiflächen-Photovoltaikanlagen soll es in Retzstadt nicht geben, da die Gemeinde die Flächen für die Landwirtschaft vorhalten möchte, erklärt Gerhard. Und auf den Dächern sei das Potenzial an Flächen irgendwann ausgeschöpft. "Aktuell wird die neue Mitte untersucht, um dort nicht nur PV-Anlagen, sondern auch einen Speicher und ein Mieterstrom-Projekt umzusetzen", so Gerhard. Dort würde die Genossenschaft gerne investieren. Außerdem soll der Bauhof vergrößert werden, auch dort könnte man Solaranlagen anbringen. "Wo sich Gelegenheiten bieten, investieren wir", so Keller.
Ein großes Thema in Retzstadt ist derzeit, wie in vielen Gemeinden, ein Nahwärmenetz. Doch auch hier ist die Gemeinde laut dem Bürgermeister auf Fachfirmen angewiesen, die Genossenschaft würde lediglich investieren. Fest steht laut Gerhard: "Der Finanzierungsbedarf in der Energiewende ist ganz enorm."