Nowosibirsk liegt über 5500 Kilometer von Lohr entfernt. Das Orchester unter der Leitung von Thomas Sanderling muss eine weite Strecke für das Konzert in Lohr am Freitag, 8. November, zurücklegen. Doch der Dirigent ist sowieso in der Welt zu Hause. Die Liste der Orchester, mit denen er zusammengearbeitet hat, ist lang und reicht vom Bolschoj-Theater in Moskau über die Hamburgische Staatsoper bis hin zum London Symphony Orchestra. Der 77-Jährige stammt aus einer traditionsreichen Musikerfamilie und leitet seit 2017 das 1956 gegründete Novosibirsk Philharmonic Orchestra. Im Interview spricht Thomas Sanderling über sich und darüber, wie Musik unterschiedliche Kulturen verbindet.
Richtig. Ich bin zum Studium nach Berlin. Der Zeitpunkt war günstig. Der Umzug der Familie nach Berlin fand zufällig dann statt, als ich mein Abitur an der Spezialschule des Leningrader Konservatoriums gemacht habe. Das Studium habe ich dann gleich nahtlos in Berlin aufgenommen.
Schwierig zu sagen. Ich muss sagen, Ostberlin, es war noch vor der Mauer, war etwas bedrückend. Nur gut, dass es Westberlin gab – voller Leben.
Ich war noch nie bei Ihnen. Aber ich muss sagen, dass Nowosibirsk jetzt die drittgrößte Stadt des Landes ist. Sie hat die Marke von anderthalb Millionen Einwohnern übersprungen. Aus meiner Erfahrung sagt die Größe einer Stadt nichts über die Qualität des Publikums aus. Ich war mit dem London Philharmonic Orchestra auf Deutschlandtour und in Städten, von denen ich nie etwas gehört habe. Die Musiker sagten mir, dass es in Deutschland überall ein qualifiziertes Publikum gibt. Wir hatten mit meinem russischen Orchester auch eine Riesentour in Großbritannien und haben die Erfahrung gemacht, dass es überall eine traditionsreiche Kultur gibt. Ich nehme an, das trifft in Deutschland noch in größerem Maße zu. Wir sind bei Ihnen, wir sind aber auch in Köln in der Philharmonie, im neuen Konzertsaal in Dortmund, in Wiesbaden.
Bei großen Orchestertourneen ist es so, dass die Veranstalter Vorschläge bei der Auswahl der Stücke Wünsche haben. Der Fagottsolist, Marceau Lefèvre, war ebenfalls ein Wunsch des Veranstalters. Dass Tschajkowski dabei ist, ist logisch, weil wir ein russisches Orchester sind und russische Musik repräsentieren. Und Beethoven spielt für so viele Komponisten eine Rolle – das hat schon alles einen Sinn für diese Russian Season in Deutschland.
Wir Dirigenten sind in der glücklichen Lage, über ein riesiges Repertoire zu verfügen. Es ist eher so, dass wir Lieblingsstücke haben. Das wechselt auch immer wieder. Aber ich muss sagen, Bach, Mozart und Beethoven, Haydn sind eigentlich Lieben, die ganz beständig sind.
Das ist schwer zu beurteilen, aber für mich gab es eigentlich keine Alternative. In Leningrad war es so, dass die Kinder von Eltern mit einem musikalischen Hintergrund zu dieser Spezialmusikschule des Konservatoriums geschickt worden sind. Und wer die Aufnahmeprüfung bestanden hatte, der ist auch geblieben. Meine Eltern haben bei mir mit Klavier- und Geigenunterricht begonnen und dann brachte mich meine Mutter, als ich sechs war, dort zu der Prüfung. In diesem Alter hat man bestimmt keine Wahl und dann wächst man da hinein.
Ja, unbedingt. Die Vereinigten Staaten sind durch die europäische Kultur geprägt, obwohl es nicht jedem bewusst ist. In Japan und neuerdings auch China habe ich die Beobachtung gemacht, wie wichtig europäische Musik ist. Da liegt Beethoven ganz vorne. Japan ist sowieso ein tolles Konzertland und auch in China nimmt es sehr stark zu, obwohl es ein Land ist, das darf man nicht vergessen, mit einer eigenen Jahrtausende alten Kultur. Ich glaube, dass europäische Musik das Stärkste ist, was außereuropäische Länder und Kulturen an Europa bindet. Jetzt studieren immer mehr Japaner und Chinesen in Europa und Amerika und da kommt viel Nachwuchs.
Ja. Ohne zu zögern: Ja! Obwohl meine beiden Eltern in Berlin geboren und beerdigt sind, hat Berlin für mich eine besondere Bedeutung. Da fühle ich mich sehr zu Hause, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es überall wertvolle und interessante Menschen gibt.