"Es geht nicht ums Gewicht", sagt Luise. "Es geht um den Body-Mass-Index. Da bin ich gerade am unteren Rand des Normalgewichts. Naja, ehrlich gesagt, am oberen Rand des Untergewichts." Luise hat im Frühjahr ihr Abitur am Johann-Schöner-Gymnasium bestanden. Mit einem Notenschnitt von 1,5 und mit etwas Verspätung, weil sie fast zwei Schuljahre wegen ihrer Essstörungen und deren Behandlung in Krankenhäusern und Kliniken für Jugendpsychiatrie verpasst hat.
Seit etwa drei Jahren geht es Luise besser, aber während der Abiturvorbereitung spürte sie, dass die Denkmuster, die bei ihr mit 14, 15 zu einer schweren Essstörung führten, in Stressphasen wieder auftreten können. "Ich sagte mir beispielsweise: Ich esse erst, wenn ich etwas geleistet habe", erzählt sie. Was für andere Menschen unproblematisch sein mag, führte dann bei ihr zu immer längeren Lernphasen, reduzierter Nahrungsaufnahme und Gewichtsverlust. "Aber ich habe das diesmal wahrgenommen und gegengesteuert."
Ziel: Nicht weniger als 1000 Kalorien am Tag
Luise hat ihre Essstörung zurzeit im Griff. Es geht ihr deutlich besser als vor drei Jahren. Aber völlig abgehakt ist das Thema nicht und wird es womöglich auch nie sein. "Vor dem Abistress habe ich schon deutlich intuitiver gegessen, mal etwas Süßes zwischendurch oder ein Eis", sagt sie. Heute beginnt ein durchschnittlicher Tag mit Müsli, Obst und Milch, zu Mittag gibt's Reis mit Gemüse – "Fleisch nur am Wochenende, eigentlich nur sonntags" – und abends einen Salat oder einen Joghurt, manchmal ein Brot. Luises Ziel ist, "nicht weniger als 1000 Kalorien am Tag zu mir zu nehmen". Der Richtwert für Frauen zwischen 19 bis 25 Jahren sind 1900 Kalorien täglich.
Dabei geht es der Karlstadterin nicht in erster Linie um ihre Figur oder ihr Aussehen. "Es geht um Kontrolle. Und es geht um Perfektion", sagt sie. Sie hat zwei erfolgreiche, ältere Geschwister. Deshalb hat sie sich selbst schon früh unter Leistungsdruck gesetzt. "Ich wollte herausragende Leistungen bringen, schulisch, charakterlich und sportlich." Mit 14 begann sie Ausdauersport zu betreiben, vor allem Laufen und Schwimmen.
"Die Disziplin zu haben, den Sport zu betreiben, das bedeutete für mich Kontrolle." Das wurde zur Besessenheit. "In den Schulpausen rannte ich Treppen hoch, im Unterricht stellte ich meine Füße so auf den Boden, dass ich den Körper vom Stuhl anheben konnte." Hausaufgaben machte sie im Stehen, sie schlief wenig und wenn, dann meistens ohne Decke. "Wenn der Körper friert, verbraucht er mehr Kalorien", meint Luise. Ihr Wunschgewicht von 48 Kilogramm bei einer Körpergröße von 168 Zentimetern erreichte sie bald. "Ich war nur kurz zufrieden, dann wollte ich mehr."
Erst die Jugendpsychiatrie am Chiemsee half ihr weiter
Drei Stunden Sport am Tag genügten ihr nicht mehr. Sie aß immer weniger und log darüber. "Außerdem hatte ich beim Essen fast immer eine Jacke dabei, in der ich Brötchen oder Obst verschwinden lassen konnte." Als sie nur noch 40 Kilo wog, war Sport nicht mehr möglich. "Aber ich versuchte, wo immer möglich zu Fuß zu gehen, Treppen zu steigen, Umwege zu gehen, um Kalorien zu verbrauchen." Luise dachte, sie kontrolliere ihren Körper. In Wirklichkeit hatte die Essstörung die Kontrolle über sie gewonnen.
Ihre Eltern und der Hausarzt halfen. Im Krankenhaus wurde sie zuerst physisch aufgepäppelt, dann kam sie in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. "Aber ich wurde physisch noch überwacht. Mein Puls war unter 30." Nach sechs Monaten in der Würzburger Psychiatrie kam sie nach Hause; drei Wochen später wurde sie wieder eingewiesen. In weiteren fünf Monaten kam sie nicht voran, wurde teilweise komplett per Sonde ernährt. Erst die Therapie in der Schön-Klinik am Chiemsee half Luise wirklich weiter.
"Besonders beeindruckend fand ich den Vortrag eines Betroffenen", erzählt Luise. "Vorher dachte ich, ich könnte es nicht schaffen, da rauszukommen." Weil ihr dieser Vortrag Hoffnung und Mut gab, wollte sie auch andere inspirieren. Als es im Biologie-Unterricht der zehnten Jahrgangsstufe um Essstörungen ging, sprach Luise vor der Klasse über ihre eigene Situation. "Das Feedback meiner Mitschüler war sehr gut und sehr reflektiert." Dies bestärkte sie.
Die Krankheit sieht man Betroffenen nicht an
Sie hat in anderen Schulen und anderen Klassen sowie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Würzburg über Essstörungen gesprochen. "Es kostet mich natürlich Überwindung, fremden Menschen davon zu erzählen. Aber ich glaube, der Nutzen ist groß." Im Kinder- und Jugendbereich sei das Thema wichtig. "Manchmal sprechen mich Schüler nach dem Vortrag an, manche finden mich auch in den sozialen Medien und stellen dort Fragen."
Sie will vermitteln, dass man sich seiner Krankheit nicht schämen muss. Und dass auch jemand, der gesund aussieht, Probleme haben kann. "Das ist nicht vorbei und vorüber, nur weil ich im Moment einen höheren Body-Mass-Index habe." Das Gefühl, beim Essen die Kontrolle haben zu wollen, sei nicht verschwunden. Mit bestimmten Ritualen, dem Einhalten fester Zeiten und dem Verwenden desselben Geschirrs komme sie aber derzeit zurecht.
Statt Ausdauersport allein betreibt sie nun Kampfsport im Verein. "Und wenn ich mal keine Lust habe, gehe ich eben nicht hin." Solche Alltäglichkeiten sind für Luise ein großer Fortschritt. Nicht verbissen zu sein, nicht perfekt sein zu wollen sind für sie überlebenswichtig. Auch der zum Assistenztier ausgebildete Familienhund Merlin gibt ihr Halt.
Im Wintersemester will sie ein Medizinstudium beginnen und in eine eigene Wohnung ziehen. Luise weiß, dass das ein Schritt zur Normalität ist. Aber es ist auch ein Risiko.
Luises Nachname ist der Redaktion bekannt. Wir verzichten in diesem Artikel darauf, ihn zu nennen, um die Familie zu schützen.