Es muss wohl im Juli/August 1953 gewesen sein, später Nachmittag, hochsommerlich schläfrig ruhig in der Herrngasse in Marktheidenfeld. Mein Freund Burschi und ich, zwei fünfjährige Buben, langweilten uns. Nichts war los, kein Mensch zu sehen, nicht einmal das Hämmern auf Blech, war aus der Bögerschen Spenglerei zu hören als plötzlich, unten vom Mainkai her, meine Schwester Gabriele um die Ecke bog. Sie kam allein vom Kindergarten an der Rothenbücher Wiese am Main nach Hause gelaufen. Das war für die Zweieinhalbjährige damals nichts Ungewöhnliches.
Ihr Kindergarten-Brotzeittäschchen hing vorn am Halsriemen weit herunter. Als Gabi bei uns ankam, nahmen wir ihr das Täschchen ab, das Brotzeitpapier heraus und wickelten da hinein ein Stück trockenen „Hundswerchel“, also Hundehaufen. Das Objekt steckten wir zurück in das Lederbehältnis. Gabi schaute verdutzt und fing an zu heulen. Wir lachten recht dreckig, schickten sie die paar Meter bis heim und hatten die Aktion schon fast wieder vergessen.
Verwerfliche Tat blieb nicht unbeobachtet
Welcher Teufel Freund Burschi und mich geritten hat, oder wer gar die verwerfliche Idee zuerst umsetzen wollte, ist nicht mehr zu klären. Beobachtet hatte unser Tun aber das Fräulein Englert, ihres Zeichens Büglerin in der Wäscherei Bauer, von ihrem erhöhten Fenster im sogenannten „Bügelstüble“ aus.
Sie war eine liebe ältere Frau, aber klar, dass sie diese Untat meiner Mutter in unserem Bäckerladen erzählte. Nur, diese sanktionierte unsere Gemeinheit keineswegs, machte sich aber ganz sicher Notizen.
Am 6. Dezember versammelte sich Familie Büttner und auch einige Nachbarn mit Anhang in Erwartung des Nikolaus samt Knecht Ruprecht in der Stube neben dem Bäckerladen. Wir empfingen die Beiden, wie immer sehr aufgeregt. Burschi vergrub seinen Kopf schon gleich in den Schoß seiner Mutter.
Im "Goldenen Buch" war alles notiert
Nach der Begrüßung und einleitenden Worten, die ihre himmlische Herkunft und Aufgabe erklärten, durfte mein Bruder Georg, sieben Jahre alt, den Bischofsstab von St. Nikolaus halten. Der gute Mann hatte nun die Hände frei, klappte sein „Goldenes Buch“ auf und rief mich, etwas vorzutreten.
Noch war ich ohne Arg, wenn auch ängstlich. Als nun die weit im Sommer zurückliegende Missetat zur Anklage kam, war ich verständlicherweise wie vom Donner gerührt. Heute noch spüre ich, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Der Glaube an die Allwissenheit des Nikolaus nahm exzessive Formen an.
Den Komplizen Burschi konnte, trotz mehrfacher Aufforderung, weder der Himmelsbote noch Knecht Ruprecht vom Schoß seiner Mutter lösen. Dadurch kam es für mich, nach ein paar Tränen ehrlicher Reue, letztendlich nur zu einem Rutenstreich des Büttels samt Bewährungsauflage in Form von drei „Vaterunser“ mit „Ave Maria“.
Eine Apfelsine im phantasieanregenden Seidenpapier
Am Ende der Zeremonie, bei der natürlich auch andere aus der Runde ermahnt wurden, bekam ich sogar noch im Rahmen des falsch verstandenen Täter-Opferausgleichs, eine damals noch seltene Apfelsine überreicht. Sie war eingewickelt in ein orientalisch bedrucktes, phantasieanregendes Seidenpapier.
Diese Geschichte gehört selbstverständlich zum immateriellen Gedächtnis der Familie Büttner. Allerdings ist sie trotz der überschaubaren Zeitspanne schon der Legendenbildung unterworfen. Ich musste doch sehr schmunzeln und später protestieren, als ich zufällig mitbekam, wie mein Sohn Simon, er war vielleicht sieben Jahre alt, die Tat seinem Freund drastisch schilderte. Es gipfelte in der Behauptung, wir bösen Buben hätten das Corpus delicti in Bonbonpapier gewickelt. Das Weitere will ich mir sparen.