"Am 28. Januar 1914 führte er sie zum Traualtar, und zwar nicht irgendwo, sondern am Trafalgar Square in London, in der altehrwürdigen Kirche von St. Martin in the Fields. Spätestens auf dem Standesamt muss ans Tageslicht gekommen sein, dass Emma streng genommen keineswegs eine blaublütige Habsburgerin aus Wien war, sondern eine gebürtige Karpf aus Marktheidenfeld in Bayern, und dass sie exakt fünfunddreißig Jahre und zweiundsiebzig Tage jünger war als der Bräutigam…" Dieses Zitat entstammt dem Buch "Himmelsstürmer. Über Madame Tussaud, Jean-Paul Marat und andere Revolutionäre" von Alex Capus. Darin beschreibt Capus das Leben von zwölf "Himmelsstürmern" in eigentlichen und im übertragenen Wortsinn, die von ihrem Genie oder von einem Spleen um die Welt getrieben worden sind, wie aus einer Pressemitteilung hervorgeht.
Zu den "Himmelsstürmern" gehört auch der Schweizer Eduard Spelterini, ein Luftschiffer, Ballonfahrer, bekannt geworden als "König der Lüfte". Weil Spelterini außer zahlenden Gästen oft Presseleute mitnahm, wuchs seine internationale Bekanntheit. Mit Fotografien, die er aus dem Ballon aufnahm, zum Beispiel bei der Überquerung der Hochalpen, hatte Spelterini ebenso großen Erfolg wie mit den Ballonfahrten selbst, zeigten sie doch Landschaften und Städte aus bislang unbekannten Perspektiven. Geboren wurde Eduard Spelterini, der ursprünglich Eduard Schweizer hieß, 1852 in dem Bauerndorf Bazenheid im unteren Toggenburg im Kanton St. Gallen.
Zu Emma Karpf, verheiratete Spelterini, schreibt Capus, dass an Spelterinis Seite eine "schöne, kluge und um einiges jüngere Frau" namens Emma aufgetaucht sei, "die Deutsch mit wienerischem Singsang sowie ein sehr gepflegtes Französisch sprach und angeblich mit dem Hause Habsburg verwandt war".
Nachforschungen im Stadtarchiv
Nach der Lektüre dieser und der eingangs zitierten Sätze begann man in Marktheidenfeld mit Nachforschungen nach Emma Spelterini. Archivpfleger Leonhard Scherg ist im Bestand "Heimatberechtigte" fündig geworden. Dort ist Andreas Karpf erfasst, geboren 1862 in Marktheidenfeld, Schneider in Genf. Das Heimatrecht ist ihm 1887 verliehen worden. Wer das Heimatrecht hatte, dem musste seine Heimatgemeinde im Fall der Verarmung helfen und Unterstützung gewähren, ihn notfalls wieder aufnehmen. Die Befugnis zur Eheschließung war vom Besitz des Heimatrechts abhängig sowie der Zustimmung der Heimatbehörde.
Deswegen gab es vor der Eheschließung von Andreas Karpf in der Schweiz auch Korrespondenz der dortigen Behörden mit der Marktgemeinde und dem Bezirksamt Marktheidenfeld wegen eines "Verkündscheins" ("Aufgebotsscheins"), dass gegen die Eheschließung kein Hindernis bekannt sei. Als Andreas Karpf dann endlich im Herbst 1887 Maria Emma Monney aus dem Kanton Fribourg heiraten konnte, war Tochter Emma Andréanne schon auf der Welt. Sie ist am 13. August 1887 geboren.
Verhältnisse für Spelterini änderten sich gravierend
In den Marktheidenfelder Unterlagen ist weiter vermerkt, dass Emma Karpf im September 1902 von der bayerischen Gesandtschaft in Bern einen Reisepass nach Österreich-Ungarn auf fünf Jahre ausgestellt bekommen hat. Das heißt, Karpf hatte keine schweizer, wohl aber immer noch die bayerische Staatsangehörigkeit. Das Heimatrecht der Familie Karpf in Marktheidenfeld bestand noch. Emma Karpf war 15 Jahre alt, als sie nach Österreich ging und möglicherweise in Wien Anstellung bei einer der Adelsfamilien gefunden hat. Dass Emma Karpf "Deutsch mit wienerischem Singsang sowie ein sehr gepflegtes Französisch sprach", lässt sich für Leonhard Scherg mit Deutsch und Französisch im zweisprachigen Haushalt der Eltern und dem Aufenthalt (wohl) in Wien nachvollziehen.
Ein halbes Jahr nach der Eheschließung von Eduard Spelterini und Emma Karpf brach der Erste Weltkrieg aus. Die Verhältnisse für Spelterini änderten sich gravierend. Von einer freien, grenzenlosen Luftschifffahrt konnte keine Rede mehr sein, seine Ersparnisse schmolzen, Motorflugzeuge kamen auf, zuverlässiger und schneller als jeder Fesselballon. Die letzten Ersparnisse Spelterinis vernichteten Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise.
Jahrelang vom Verkauf der Eier gelebt
Anfang 1923 ließen sich die Spelterinis mit ihrem Diener Robert Zuber sowie dessen Frau und Sohn in Zipf bei Vöcklabruck in Oberösterreich nieder. Dort starb Spelterini am 16. Juni 1931 in seinem Haus. Die "Herrschaften" sowie ihre "Diener" lebten jahrelang vom Verkauf der Eier der dreihundert Hühner, die Zuber hielt.
Emma Spelterini und die Zubers blieben noch einige Jahre in Zipf. Anfang 1938 verkaufte Emma Spelterini das Haus für billiges Geld und kehrte in die Schweiz zurück. Im August 1939 heiratete sie in Yverdon-les-Bains, Kanton Waadt , wo die Familie Karpf spätestens ab 1893 lebte, den einheimischen Hausarzt Henri Duruz und ließ sich am Neuenburgersee nieder. Sie starb am 27. Oktober 1963.