„Eigene Freiräume gibt es fast nicht mehr.“ Die Schulzes (alle Namen geändert) wissen, wovon sie sprechen, denn sie haben einen Zweitberuf: Elterntaxi. Und der fordert sie Tag und Nacht. „40 Kilometer pro Tag sind normal“, sagen sie.
Obwohl ihr Wohnort im Werntal nicht weit von Karlstadt entfernt ist, ist das Auto das Verkehrsmittel der Wahl. Der Berg dazwischen schreckt doch vom Radfahren ab. Ständig verschwitzt irgendwo ankommen ist nicht begehrenswert. Es liegt auch ein wenig an der heutigen Zeit. Ein Elternteil ist in dem Dorf, wo die Familie heute wohnt, aufgewachsen: „Bei uns war es noch normal, als Jugendlicher nach Karlstadt ins Freibad zu radeln.“
Einen Kindergarten gibt es zwar im Ort, bei Familie Schulz begann der Fahrdienst aber dennoch schon im Kindergartenalter, weil der Lieblingssport nur in Karlstadt angeboten wurde. Dorthin nahm die Familie gleich noch andere Kinder aus dem Dorf mit. Ein geräumiger Van musste her.
Musik spielten die Kinder zunächst noch im Ort – beim Musikverein. Inzwischen ist hier das Angebot nicht mehr so groß. Daher gibt es jetzt auch Fahrten zur Karlstadter Musikschule. Und da sind Fahrgemeinschaften fast unmöglich, weil der Unterricht individueller ist als der gemeinsame Besuch des Sporttrainings.
Am Wochenende zu den Freunden
An den Wochenenden verschiebt sich der Schwerpunkt. Da die Kinder in den weiterführenden Schulen Karlstadts Freundschaften geschlossen haben, stehen Besuche im gesamten Umkreis an. Das reicht von Arnstein bis Thüngersheim. Immerhin tun sich häufiger mehrere aus dem Freundeskreis zusammen und fahren gemeinsam.
Dabei empfinden die Schulzes die Distanzen noch als verträglich. „Krasser ist es bei den Mädchen im Ort, die ins Gemündener Florentini-Gymnasium gehen. Da wohnen die Freundinnen schon mal im hinteren Sinngrund.“ Schon bei der Geburt des jüngsten Kindes kam bei Familie Schulz das zweite Auto dazu. Inzwischen gehört das dritte Auto zur Familie.
„Man ist gerade am Bügeln, da kommt eine Whats-App mit der Bitte, eines der Kinder abzuholen“, schildert die Familie. Es sei ein ständiges Hin- und Hergerissensein zwischen sich selbst und den Fahrten. „Uns war klar, dass das auf uns zukommen wird, sooo klar aber dann doch nicht.“
Täglich 40 Kilometer, das sind 12 Euro am Tag oder 4380 Euro im Jahr, wenn man den Satz des Finanzamts annimmt. Da kostet ein Autokilometer inklusive Steuern, Versicherung und Wertverlust 30 Cent. Je nach Zahl der Kinder der Kinder dauert dieser Zweitberuf 20 bis 25 Jahre. Bei den Schulzens sind es 25, denn sie haben vier Kinder. Das macht also fast 110 000 Euro. Das beim Haus- oder Grundstückskauf zunächst eingesparte Geld wird nach und nach wieder aufgefressen.
Andere Familien berichten, dass in ihrem Dorf WhatsApp inzwischen eine wichtige Rolle spielt. Eine Mutter: „Es ist schon verblüffend, wie schnell die Mitfahrgelegenheiten organisiert werden. Meine Tochter muss zum Beispiel um 10 Uhr im Gymnasium sein. Dreiviertel zehn sage ich ihr, dass ich sie fahre. Fünf Minuten später stehen drei andere vor der Haustür und fahren mit.“
Eine andere Mutter fügt hinzu, sie könne nicht verstehen, warum so etwas nicht schon am Vorabend organisiert wird. „Nein, es muss am Frühstückstisch sein, da kommt dann plötzlich der Stress auf.“ So seien die Jugendlichen eben heute gestrickt.
Der ökologische Fußabdruck
Familie Huber mit drei Kindern hat die Fahrten begrenzt. So kommen pro Wochen insgesamt „nur“ rund sieben Fahrten zur Schule, zum Sport und zu Freunden zusammen. Auf manches müssten die Kinder verzichten. „Dass wir zwei Autos haben müssen, ist schon nicht so gut für den ökologischen Fußabdruck.“
Aber wenn um 16 Uhr Schulschluss ist und der Bus erst um 17.20 Uhr fährt, wolle man den Kindern die Wartezeit nicht zumuten. Sie hätten schließlich jede Menge zu tun.
Zu Schuljahresbeginn werden die Zeiten der eigenen Kinder mit denen anderer verglichen. So entsteht ein „Fahrplan“, wer wann wen mitnimmt. Auch werde versucht, den Kieferorthopäden mit der Chorprobe zu kombinieren. Oder es werden Einkäufe erledigt, während ein Kind eine Trainings- oder Übungsstunde hat.
Dennoch hat sich Familie Huber bewusst fürs Land entschieden. Die Kinder können alleine herumstrolchen. Im eigenen Haus mit viel Platz muss man auf keinen Nachbarn Rücksicht nehmen, kann Tiere halten und die Natur genießen. Außerdem schätzen die Hubers den Zusammenhalt im Dorf.
Genau das hat auch eine Rolle gespielt, als Familie Hofmann mit ihrem Kind in ein Dorf auf dem Land gezogen ist. Ein Elternteil kommt aus einer Kleinstadt in ähnlicher Größe wie Karlstadt. Eine Weile lebte das Paar in einer Großstadt. Doch beide loben, in einem Dorf würden Kinder besser soziale Kompetenzen lernen. Man könne sich auf Nachbarn verlassen. Umgekehrt kümmern sich die Hofmanns, wenn sie mal den älteren Nachbarn zwei Tage nicht gesehen haben.
„Es gibt eine gewisse Einwohnergrenze, über der eine gewisse Anonymität einsetzt. Von da an ist der Zusammenhalt nicht mehr so stark, auch kommt ehrenamtlich weniger zustande. Hier ist es heimeliger und geborgener.“ Dafür könne man auf manches Amusement verzichten.