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Main-Spessart
Eltern haben oft hohe Erwartungen an sich und an ihre Kinder
Seit 50 Jahren gibt es die Beratungsstelle für Eltern, Jugendliche und Kinder im Landkreis Main-Spessart. Ein Gespräch über den Wandel mit Leiter Ottmar Braunwarth.
Landrätin Sabine Sitter ließ es sich nicht nehmen, dem Leiter der Beratungsstelle Ottmar Braunwarth, persönlich zum Jubiläum zu gratulieren.
Foto: Holger Steiger | Landrätin Sabine Sitter ließ es sich nicht nehmen, dem Leiter der Beratungsstelle Ottmar Braunwarth, persönlich zum Jubiläum zu gratulieren.
Frauke Beck (LRA Main-Spessart)
 |  aktualisiert: 08.02.2024 12:06 Uhr

Kindererziehung und Familienleben sind nicht immer problemlos. Unterstützung erhalten Eltern und Kinder im Landkreis Main-Spessart bei der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche, die heuer 50 Jahre besteht. Die Fragestellungen und Probleme, die im Mittelpunkt der Beratung stehen, sind heute ganz andere als 1970. Sie sind ein Spiegel der jeweiligen Zeit. Die Pressestelle des Landratsamtes fragte den Leiter der Beratungsstelle, Ottmar Braunwarth, wie sich das Verständnis von Familie und Kindererziehung in den letzten 50 Jahren verändert hat. 

Herr Braunwarth, wenn man auf die vergangenen 50 Jahre zurückblickt, wie hat sich das Familienbild verändert?

Ottmar Braunwarth: 1970 war der Mann der "Ernährer" der Familie. Seine Ehefrau war nicht berufstätig, sie führte den Haushalt und war für die Kindererziehung zuständig. So war es in den Anfangsjahren dieser Beratungsstelle eine große Seltenheit, wenn ein Vater mit zu einem Gespräch kam. Die sogenannte "Hausfrauenehe" war vor einem halben Jahrhundert in der Bundesrepublik nicht nur eine private Entscheidung, sondern ein staatlich gewolltes Lebensmodell. So blieb es dem Ehemann bis 1977 per Gesetz vorbehalten, seine Zustimmung zu verweigern, wenn seine Frau arbeiten wollte. 

Wie steht es um die Rollen in einer Paarbeziehung heute?

Braunwarth: Heute ist der Großteil der Frauen auch in der Ehe berufstätig. Die allermeisten Paare wollen Beruf und Familie partnerschaftlich leben. In der Lebensrealität muss dies zwischen den Partnern mit jedem Kind und jeder beruflichen Veränderung aufs Neue gut ausgehandelt werden, sonst entsteht schnell ein Gefühl von Unfairness und Unzufriedenheit. Bei vielen Paarkonflikten geht es in der Beratung um diese Aufteilung. Im Gegensatz zu früher nehmen Männer heute regen Anteil an der Schwangerschaft der Frau und sind auch bei der Geburt dabei. Sie wechseln Windeln und schieben in aller Öffentlichkeit den Kinderwagen. Anfang der 70iger galt so ein Verhalten dagegen als unmännlich.

Trotz zahlreicher Beratungs-und Hilfsangebote wird heute etwa jede dritte Ehe geschieden. Wie sah das früher aus?

Braunwarth: 1970 geschieden oder eine alleinerziehende Mutter zu sein, war ein gesellschaftlicher Makel. So blieben viele Paare zusammen, obwohl die Ehe zerrüttet war. Bei einer Scheidung galt bis 1977 das sogenannte "Verschuldensprinzip". Das Familiengericht hatte herauszufinden, welcher Elternteil an der Trennung schuld war. Dies hatte nicht nur oft eine Schlammschlacht zur Folge, sondern barg für die Frauen ein hohes finanzielles Risiko. Wurde ihr die Schuld zugewiesen, stand ihr unter Umständen keinerlei Unterhalt für sich und die Kinder zu. So überlegten sich Frauen eine Scheidung sehr gut. Für Kinder kam eine Scheidung oft mit dem Ende der Vaterbeziehung gleich, da sich diese während der Ehe kaum um ihre Kinder bemüht hatten.

Und wie sieht es heute aus?

Braunwarth: Heute werden unglückliche Ehen nicht mehr durchgestanden, sondern geschieden. Eine Scheidung ist kein gesellschaftlicher Makel mehr. Das ändert aber nichts daran, dass für junge Menschen nach wie vor eine Partnerschaft – nicht unbedingt die Ehe – für das Lebensglück am wichtigsten ist. Heute will der Großteil der Väter auch nach einer Scheidung Verantwortung für seine Kinder übernehmen und möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen. Dieser Wunsch wird bei unseren Beratungsgesprächen immer häufiger geäußert. Daher wird bei einer Trennung das gemeinsame Sorgerecht angestrebt. Zumindest ist dies das Ziel fast aller Eltern vor der Trennung.

Das hört sich doch gut an...

Braunwarth: Die Realität sieht dann leider oft anders aus. Viele Eltern stehen im Scheidungsverfahren vor dem Familiengericht, obwohl sie wissen, dass massiver Elternstreit sich sehr negativ auf die Psyche der Kinder auswirkt. Hinzu kommt, dass eine Scheidung auch heutzutage zumeist eine deutliche finanzielle Verschlechterung für die Eltern bedeutet. Deshalb überlagern weiterhin finanzielle Fragen die Umgänge und die Beziehungen von Trennungskindern.

Bis in die 1970er Jahre waren Ohrfeigen und Prügel nicht nur gesellschaftlich anerkannt, sondern auch noch gesetzlich erlaubt. Hier ein Symbolbild.
Foto: Thinkstock | Bis in die 1970er Jahre waren Ohrfeigen und Prügel nicht nur gesellschaftlich anerkannt, sondern auch noch gesetzlich erlaubt. Hier ein Symbolbild.
Wie haben sich Kindererziehung und die Eltern-Kind-Beziehungen verändert?

Braunwarth: Gehorsam, Ordnung und Respekt vor Autoritäten waren 1970 die Top-Erziehungsziele. Die Mittel, sich als Eltern Respekt zu verschaffen, waren Ohrfeigen und eine Tracht Prügel. Diese waren tatsächlich nicht nur gesellschaftlich anerkannt, sie waren auch gesetzlich erlaubt. Bis 1973 durften auch Lehrer in der Schule die Prügelstrafe anwenden. Dazu passt eine interessante geschichtliche Randnotiz: 1978 sollte Astrid Lindgren der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in Frankfurt verliehen werden. Doch die Rede von Lindgren war der Stiftung zu provokativ. "Wie viele Kinder haben ihren ersten Unterricht in Gewalt von denen, die man liebt, nämlich von den eigenen Eltern erhalten und dieses Wissen dann der nächsten Generation weitergegeben", so eine Passage ihrer Rede. Doch Astrid Lindgren ließ sich den Mund nicht verbieten. Entweder sie dürfe die Rede halten, oder sie komme nicht. Dem Veranstalter drohte eine öffentliche Blamage. Im letzten Moment lenkte er ein. 

Und wie gestalten sich im Jahr 2020 die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern?

Braunwarth: Die Sicht auf Kinder und die Wichtigkeit einer positiven Eltern-Kind-Beziehung sowie Anerkennung der individuellen Bedürfnisse und Rechte der Kinder haben sich fundamental geändert. Die positiven Auswirkungen zeigen sich auch in Zahlen. Seit 2007 hat die Zahl der wegen Gewalttaten polizeilich registrierten tatverdächtigen Jugendlichen um gut 40 Prozent abgenommen. Ähnliche Trends zeigen sich beim Rückgang des Suizids oder des Alkoholkonsums. Wir stellen bei der Beratung immer wieder fest, dass viele Eltern sehr hohe Erwartungen an sich haben. Sie wollen alles richtig machen und die Kinder bestmöglich fördern.

Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht?

Braunwarth: Erziehungsratgeber sind sehr gefragt. Diese suggerieren, dass Erziehung lehrbuchmäßig zu funktionieren scheint. In der praktischen Umsetzung erscheinen Eltern jedoch eher unsicherer und hilfloser als früher. Häufig geht es in der Beratung um die Frage: Wie werde ich als elterliche Autorität vom Kind/Jugendlichen anerkannt, ohne autoritär zu sein. Die selbstbewusst erzogenen Kinder von heute erfordern jedoch ein ganz anderes Konfliktlösungsmodell als früher. Erzieherinnen und Lehrer beklagen, dass bei Kindern immer mehr nur das "Ich" zählt, dass der Respekt vor den Bedürfnissen der anderen und sogenannten "Respektspersonen" zunehmend verloren geht. Sie beklagen auch, dass ein Teil der Eltern resigniert hat, ihren Kindern Grenzen zu setzen, dass Eltern die Erziehung auf LehrerInnen und ErzieherInnen abwälzen.

Kommen wir zu den Themen "Bildung" und "Sozialer Aufstieg". Was hat sich da in den vergangenen 50 Jahren getan?

Braunwarth: 1970 war es der Normalfall, dass Kinder die Volksschule abschlossen und dann einen meist handwerklichen Beruf lernten. Leistungsdruck war weitgehend unbekannt. In Zeiten der Vollbeschäftigung fand jeder einen Job. Die "Hausfrauenehe" bedeutete, dass in den Köpfen die Auffassung weit verbreitet war, dass Mädchen keinen Beruf zu erlernen brauchten. Laut Statistik erlangten nur rund zwölf Prozent der jungen Menschen die Hochschulreife, inzwischen sind es deutschlandweit über 50 Prozent. Die frühkindliche Bildung beginnt heute bereits im Kindergarten.

Da scheint sich ja vieles zum Guten gewandelt zu haben.

Braunwarth: Doch es gibt auch Schattenseiten. Der Leistungsdruck hat enorm zugenommen mit negativen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Das merken wir auch bei Gesprächen in unserer Beratungsstelle. Der wichtigste Wunsch der Eltern bei der Einschulung ist, dass ihr Kind nach der vierten Klasse mindestens die Realschule besucht. Die Mittelschule kämpft deshalb um ihren guten Ruf und die Kinder, die es nicht auf eine weiterführende Schule geschafft haben, fühlen sich oft weniger wert. Eltern fungieren als unerlässliche Hilfslehrer und die Nachhilfe-Industrie boomt. Obwohl die Ganztagsbetreuung und die Zahl an Schulsozialarbeitern massiv ausgebaut wurde, bestimmt in Deutschland die soziale Herkunft weiterhin in stärkerem Maß über den Schulerfolg als in vielen anderen Ländern. 

 
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