Wie ein Wimmelbild, nur real: Dutzende Verletzte und noch mehr Rettungskräfte sind hoch oben auf der Bahnbrücke über dem Lohrer Weinbergweg nahe der Wöhrde verstreut. Auch eine Stunde nach dem Notruf laufen Helfer noch hektisch hin und her. Allein der verunglückte Zug steht wie vom Schicksal eingefroren am Rand der Szene und spuckt Rauch in die Luft, während die Verletzten darauf warten, endlich weggebracht zu werden.
Etwa eine Stunde zuvor, um 15.41 Uhr, ist er endlich gekommen: Der Alarm, auf den Kommandant Sebastian Mademann und die Mitorganisatoren der Übung am vergangenen Wochenende gewartet hatten. Es ist wohl eine der größten Rettungsübungen, die Lohr je gesehen hat. Die größte jedenfalls, an die sich Mademann erinnern kann. Seit Herbst, als die Deutsche Bahn (DB) die Übung angeregt hatte, haben die Führungsriegen von Lohrer Feuerwehr und Rettungsdienst das Szenario geplant. Eine Katastrophe dieser Art hat es hier zum Glück nie gegeben. Aber sie wäre möglich, sagt Mademann.
Ein zertrümmertes Auto und ein brennender Zug
Die Übung beginnt rund eine halbe Stunde im Verzug, denn die Bahn, besser gesagt der bereitgestellte Übungswagon der Mainfrankenbahn, hatte Verspätung. Eine Ironie, die den wartenden Organisatoren am stillgelegten Industriegleis des ehemaligen BayWa-Geländes nicht entgeht. Ab da geht alles schnell: "Übungsalarm, Übungsalarm", kratzt die Stimme des Würzburger Leitstellenmitarbeiters aus den Funkapparaten, und: "PKW gegen Bahn". Sieben Minuten später fahren die ersten Retter auf das Gelände.
Die Lage, die sich am Weinbergweg abspielt, ist unübersichtlich. Denn es ist nicht ein Einsatz, zu dem die Retter heute gerufen worden sind, es sind eigentlich drei: Ein zertrümmertes Auto, ein brennender Zug, ein Sanitätszelt am ehemaligen Stadtbahnhof. Ein Kleinwagen lehnt seitwärts an einem Baumstumpf in der Böschung, vom Zusammenstoß mit der Lock ist er hinabgestürzt und hat sich überschlagen. Die Seiten sind eingedrückt, die Frontscheibe zertrümmert. Die einzige Überlebende liegt einige Meter daneben hinausgeschleudert im Gestrüpp. Im Unfallauto stecken die Leichen ihrer beiden Mitfahrer fest.
Über der ohnehin schaurigen Szene thront der brennende Zug – der Tank des Autos ist geplatzt, der Funkenschlag der Notbremsung hat ein Feuer entfacht. 18 teils schwer verletzte Passagiere sind dem gefährlichen Qualm ausgesetzt, den die Übungsleiter mit künstlichem Nebel simulieren. Nur über einen steilen und mit dornigen Sträuchern überwucherten Hang können die Feuerwehrleute überhaupt zu den Schienen raufkraxeln. Der Dritte Einsatzort liegt deshalb fast einen Kilometer südlich vom Zusammenstoß, am stillgelegten Stadtbahnhof: Dort errichtet der Rettungsdienst in Windeseile ein Behandlungszelt.
61 Feuerwehrleute und 55 Rotkreuzler im Einsatz
Laut Sebastian Mademann könnte diese Situation auf der aktiven Strecke zwischen Lohr und Partenstein wirklich eintreten. Denn dort, so der Kommandant, verlaufen etliche Wald- und Forstwege entlang der Schienen. "Wenn da jemand vom Weg abkommt und versehentlich in den Bahnbereich fährt, kann genau diese Situation passieren", sagt er.
Die Lohrer Einsatzkräfte sind dankbar für die Unterstützung der Deutschen Bahn, sagt Mademann, denn ohne sie wäre die Übung dieses Zugunglücks nicht möglich. Neben den ortsnahen Feuerwehren Lohr, Sackenbach, Wombach und Partenstein ist auch die Feuerwehr Langenprozelten beteiligt. Auf ihrer Wache hält die DB eine Draisine vor, die dringend gebraucht wird: Sie soll die Verletzten über die Schienen zum Notarzt im Zelt am Stadtbahnhof bringen. 61 Feuerwehrkräfte, dazu 55 Kräfte des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) aus dem ganzen Landkreis Main-Spessart sind im Einsatz.
Die Bahn selbst ist per Eisenbahngesetz verpflichtet, in jedem der deutschlandweit 173 Notfallbezirke jährlich eine Übung oder einen Unterricht zu organisieren, erklärt eine Unternehmenssprecherin per Mail. Deshalb sind an diesem Samstag sogenannte DB-Notfallmanager dabei. Laut Leiterin Silvia Jäger kümmern sie sich darum, Zugstrecken zu sperren oder freizugeben, verschlossene Zugtüren zu öffnen – seitens der Bahn also alles dafür zu tun, um den Rettern im Einsatz zu helfen. Es ist Jägers erster Einsatz dieser Größe, sagt sie. Und er hat es gleich in sich.
Schreckmoment für Passanten
Nicht alles läuft glatt bei dieser Übung, damit haben die Organisatoren gerechnet. "Wir wollen ja einen Lerneffekt", sagte Mademann vorab. Der Einsatzort ist hoch oben, versteckt hinter Bäumen und Gestrüpp. So versteckt, dass der erste Rettungswagen vorbeigefahren ist. "Normalerweise gibt es bei so einem Unglück immer Passanten, die die Rettungskräfte einweisen", sagt Sebastian Becker, Kreisbereitschaftsleiter des BRK. Diesmal waren keine da.
Schaulustige gibt es trotzdem, denn die Szene am Weinbergweg gleicht an diesem Samstag einem Actionfilm. Manche warten am Spazierweg und bestaunen die ungezählten Blaulichtwagen. Andere vermuten hinter dem Großeinsatz einen Ernstfall und schauen sich erschrocken um. "Nur eine Übung", gibt jemand Entwarnung. "Ein Glück, das sieht ja schrecklich aus", sagt eine Frau, die gerade mit ihrem Mann vorbeigeht, die Hand entsetzt auf den Brustkorb gedrückt.
Um 16.40 Uhr, eine Stunde nach der Alarmierung, ist die letzte Person aus dem Zug gerettet. Die schwer verletzte Autofahrerin ist da bereits abtransportiert. Sie hätte den Unfall, anders als ihre beiden Mitfahrer, wohl überlebt. Die Passagiere des Zugs dagegen harren entlang der Gleise aus: Manche sind bei Sinnen, andere bewusstlos, wieder andere schreien nach Freunden. Sie warten auf die Langenprozeltener Draisine, während die Einsatzkräfte der Feuerwehr im Wimmelbild die kritischsten Patienten ausmachen – sie müssen zuerst hier weg. Ein paar Leichtverletzte sind den 800 Meter langen Weg zum Rettungszelt zu Fuß angetreten.
Für den Rest beginnt um 17.11 Uhr die rettende Fahrt. Als am Stadtbahnhof die letzten Verletzten untersucht und die Übung für beendet erklärt werden kann, ist es 18 Uhr. "Wenn man den verspäteten Beginn der Übung abzieht, sind wir im Zeitplan", sagt Sebastian Mademann später. In den kommenden Tagen werden die Führungskräfte den Einsatz durchgehen und ihren Leuten weitergeben, was sie im Ernstfall besser machen können. Am Tag der Übung zeigt sich Mademann mit dem Ergebnis zufrieden.