
Was Ingeborg Badum, geborene Borst, am Ende des Zweiten Weltkriegs in Gemünden und Wernfeld erlebt hat, lässt sie nicht mehr los. Vor ein paar Jahren war sie mit ihrer Familie in Augsburg in der Fuggerei und besuchte dort auch einen Luftschutzbunker. Plötzlich ertönte zur Demonstration "original die Sirene" wie bei Luftangriffen, gleich darauf das Geräusch von Tieffliegern, erzählt sie. Sie sei erschrocken wie seit dem Krieg nicht mehr. "Das ist mir durch und durch." Sie fuhr so zusammen, dass Umstehende sie ansprachen.
"Da hab ich gemerkt, das sitzt so tief in mir." Ihre Tochter sage ihr schon seit Jahren, sie solle alles aufschreiben, es gehe sonst verloren. Den Gedanken trug sie lange in sich. Irgendwann, inzwischen 86, saß sie da und strickte, Heft und Stift schon griffbereit daneben, und begann tatsächlich ihre Erinnerungen niederzuschreiben, hauptsächlich der Enkel wegen.
Von den Habseligkeiten war nur noch ein Nähmaschinenteil übrig
"Es ist alles lebendig", sagt die gebürtige Gemündenerin, die seit 1955 in Würzburg und seit 1970 in Heidingsfeld lebt, am Telefon. "Es ist schon eigenartig, dass man sich an so viele Einzelheiten erinnern kann." Kurz bevor Gemünden zerstört wurde, war sie mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester bei den Großeltern in Wernfeld untergekommen. Das Hinterhaus der Sparkasse in der Gemündener Obertorstraße 24, dort, wo früher der Schlecker war und heute der Basti ist, wurde in ihrer Abwesenheit bei einem Volltreffer komplett zerstört. Als sie mit ihrer Mutter das erste Mal wieder zurückkehrte, habe diese in den Trümmern lediglich die Tretplatte der Nähmaschine gefunden. "Das brauchen wir jetzt auch nicht mehr", habe die Mutter gesagt.
Zuvor habe es aber geheißen, man solle an verschiedenen Orte Päckchen deponieren, falls ein Ort zerstört wurde. Ihre Mutter hatte denn auch im Keller von Madlon, der verwirrenderweise im Haus schräg gegenüber vom Madlon war, während sich unter dem Madlon-Haus der Gewölbekeller der Sparkasse befand, ein Päckchen deponiert. Aber die Enttäuschung war groß, dass dort nichts als Matsch war. In einer Ecke fand ihre Mutter aber einen unscheinbaren, total verdreckten schwarzen Lumpen – der sich als Inges Kommunionkleid herausstellte. Das war nur Dreck und ließ sich reinigen, so dass ihre Schwester 1947 das Kleid bei deren Kommunion noch tragen konnte.

An den Kriegsbeginn erinnert sich die damals Fünfjährige noch genau. Ihre Eltern standen vor dem Volksempfänger und sagten plötzlich: "Jetzt haben wir Krieg." Doch hatte sie zunächst eine normale Kindheit. Sie sammelten Pilze im Wald hinter dem Josefshaus und Heidelbeeren drüben im Wald auf der anderen Mainseite, gingen im Sommer ins Schwimmbad, spielten in der Mainstraße und mussten nur aufpassen, wenn die Gäule vom Gumpp wieder einmal durchgegangen waren. Auch wenn der Vater 1941 in Frankreich, vermutlich bei einem Autounfall, starb, spürten sie vom Krieg lange nichts.
Sie sah, wie Behinderte zum Bahnhof gefahren wurden – in den Tod?
Ihre Mutter ging nachmittags oft mit den beiden Töchtern am Main oder im Wald spazieren. Einmal, erinnert sie sich, gingen sie zum Bahnhof. Aus einem Bus sah sie Leute mit Behinderung steigen, sie vermutet vom Josefshaus. "Ich sehe noch die kleine pummelige Frau mit ihrem aufgeschlitzten Kleid", schreibt sie. Sie habe es offenbar in ihrer Verwirrung aufgeschlitzt. Unsere Mutter sagte nur: "Kommt wir gehen weg von hier." Ahnte diese, dass die Menschen ihrem Tod entgegenfuhren? Vielleicht.
Als sie wieder einmal auf der Mainstraße spielten, wahrscheinlich war es im August 1943, flogen am hellen Nachmittag silbrig glänzende Flugzeuggeschwader über die Stadt hinweg. Ein hochrangiger Soldat, der mit anderen im Hotel Koppen stationiert war, habe lautstark verkündet: "So fliegen unsere Bomber nach England". Doch nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass es englische Bomber auf dem Weg zum ersten Luftangriff nach Schweinfurt waren. Die Kinder mussten sofort ins Haus, da man fürchtete, dass die Flieger auf dem Rückflug übriggebliebene Bomben abwerfen könnten. So begann der Schrecken. Dann kamen ausgebombte Familien aus dem Ruhrgebiet und es gab regelmäßig Fliegeralarm, oft wurden die Kinder aus dem ersten Schlaf gerissen und mussten in den Kustererkeller laufen. Sie lebten in ständiger Angst.
Während Tiefflieger durchs Maintal flogen, flohen sie nach Wernfeld
Zwei Tage nach der Bombardierung Würzburgs (16. März 1945) war Inge das letzte Mal in der Wohnung in der Obertorstraße. Während des Sonntagsgottesdienstes gab es Voralarm und ihre Mutter holte sie aus den Kinderbänken. Sie wollten zu Fuß zu den Großeltern nach Wernfeld. Noch auf dem Weg zum Bahnhof mussten sie in einem Stollen Zuflucht suchen und auf Entwarnung warten. Unter ständigem Voralarm, Alarm, Entwarnung gingen sie unter den Bäumen am Straßenrand bis zum Wald, während Tiefflieger den Main entlang flogen. Vier statt einer Stunde brauchten sie an dem Tag bis nach Wernfeld.
Dort lebten sie im Bierkeller nahe dem Gasthaus Hofmann ihrer Tante. Sie waren auch am Tag immer in der Nähe des Kellereingangs, um sich gleich in Sicherheit bringen zu können. "Alarm-Angst-Keller. Das war der Tagesablauf", schreibt sie. Auch in Wernfeld waren Soldaten. Im Wald wurden Schützengräben gegraben, man hörte die Artillerie schießen. Vor dem Gasthaus Hofmann wurde eine Panzersperre gebaut, die im Ernstfall die Frauen bedienen sollten.
Alle Vögel fliegen hoch, Bomber tief
Und dann kam der 4. April 1945 und ein schlimmer Luftangriff auf Wernfeld. Inge Badum erinnert sich noch, dass sie vor dem Keller "Alle Vögel fliegen hoch" spielten, als es plötzlich hieß: "Flieger kommen, schnell, schnell, schnell." Alle Nachbarn rannten in den Keller. Unter Todesangst hieß es ausharren. Die Leute beteten. Als es ruhig wurde, waren viele Häuser im Dorf, vor allem im hinteren Teil, zerstört, auch der Kindergarten, in dem Militär stationiert war. Und auch Adelsberg wurde getroffen. "Das Adelsberg hat lichterloh gebrannt", sagt sie.
Beim Bombenangriff am 4. April 1945, der Tag, an dem die Amerikaner begannen Gemünden einzunehmen, kamen in Wernfeld 29 Zivilisten und drei Soldaten ums Leben. Barbara Kernwein starb genau an ihrem 50. Geburtstag im Keller des Kaufhauses Kaspar Gerlach. Mit ihr verloren weitere 24 Menschen das Leben, die im Keller Schutz gesucht hatten, weiß Inge Badums Wernfelder Schulkamerad Eugen Feser, der seine Erinnerungen an jenen Tag schon in Artikeln veröffentlicht hat.
Beschädigungen am Gasthaus Hofmann durch Brückensprengungen
Soldaten der Wehrmacht sprengten in Wernfeld noch schnell drei Brücken, wodurch beim Gasthaus Hofmann, das beim Luftangriff ohne Schaden davonkam, Fenster aus den Angeln gehoben und das Dach teilweise abgedeckt wurden. Die Frauen – Männer waren ja keine da – mussten danach selbst aufs Dach und den Schaden ausbessern. Die damals Elfjährige erinnert sich, dass die Amerikaner an einem Sonntagmorgen nach Wernfeld kamen. Zum ersten Mal im Leben sahen Inge Badum und Eugen Feser Schwarze.

Die Borsts wohnten zunächst noch im Gasthaus Hofmann, bauten dann das zerstörte Haus der Großeltern auf. Den Rest ihrer Schulzeit verbrachte Inge in Wernfeld und begann mit 15 in Gemünden ohne Lohn eine Lehre als Damenschneiderin. Am Wochenende half sie ihrer Tante im Gasthaus und verdiente so etwas Geld. Ihr späterer Mann arbeitete in Gemünden bei der Bahn als Inspektor. 1953 heirateten sie, sie zogen nach Würzburg und bekamen drei Kinder. Als Hausfrau konnte sie ihre Schneiderkünste gut gebrauchen. Seit 1994 leitet sie den Frauenkreis in der Heidingsfelder Pfarrgemeinde St. Laurentius, ihre ehrenamtliche Tätigkeit im Pfarrbüro hat Inge Badum kürzlich nach 41 Jahren aufgegeben.