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Wiesenfeld
Ein vereitelter Anschlag auf den einzigen nach Wiesenfeld zurückgekehrten Juden machte vor 75 Jahren international Schlagzeilen
Gustav Steigerwald kehrte 1945 nach Wiesenfeld zurück und sorgte dort für mächtig Wirbel. Er focht an gegen das Verdrängen, suchte Wiedergutmachung und wohl auch Rache.
Der Grabstein Gustav Steigerwalds auf dem Jüdischen Friedhof in Würzburg.
Foto: Hermann Schaub | Der Grabstein Gustav Steigerwalds auf dem Jüdischen Friedhof in Würzburg.
Björn Kohlhepp
 |  aktualisiert: 26.12.2024 02:36 Uhr

Ein Vorfall kurz nach Kriegsende brachte Wiesenfeld international in die Schlagzeilen. Ende Oktober 1949 wurde ein Anschlag auf Gustav Steigerwald vereitelt, der gemeinsam mit seiner Frau Selma als einziger Wiesenfelder Jude nach dem Ende des Dritten Reichs 1945 wieder in sein Heimatdorf zurückgekehrt war. Die beiden hatten das KZ Theresienstadt überlebt, seine Frau war aber schon im Jahr darauf gestorben. Die Haushälterin Steigerwalds hatte vor 75 Jahren Holzscheite zerhacken wollen und bei dreien festgestellt, dass das Holz in der Mitte durchbohrt und der Hohlraum mit Schwarzpulver ausgefüllt worden war, meldete die Main-Post am 24. Oktober 1949. Vier Verdächtige aus Wiesenfeld wurden festgenommen.

Ein antisemitischer Anschlag im jungen Nachkriegsdeutschland? Die Aufregung war daraufhin verständlicherweise groß. In der "Auslandspresse" sorgte der Fall für große Beachtung. Damit nicht genug: In den Tagen nach dem "verwerflichen Anschlag", wie ihn die Main-Post am 31. Oktober 1949 auf der Titelseite nannte, wurde Steigerwald auf einem Zettel, der an das Tor seines Hofes in der Hauptstraße geklebt wurde, angedroht, dass er gelyncht werde. Außerdem hatten ihm Unbekannte das Schlafzimmerfenster eingeschlagen, eine tote Katze und ein totes Huhn vor die Haustür gelegt und Giftweizen im Hof gestreut. Was war da los?

Die Lokalzeitungen schrieben von "Racheakt"

Schon in der ersten Meldung schrieb die Main-Post: "Angeblich soll es sich um einen Racheakt handeln." In einer Bürgerversammlung sprachen mehrere Wiesenfelder davon, dass die Einwohnerschaft durch das Verhalten Steigerwalds, der damals 60 Jahre alt war, erbost sei. In Artikeln der Main-Post wie der Lohrer Zeitung war von "persönlich-geschäftlichen Differenzen" und Rache aufgrund seines Verhaltens und von "ungeschickten Äußerungen" seinerseits die Rede.

Foto von Gustav Steigerwald in einer Polizeiakte von 1937 im Staatsarchiv Würzburg.
Foto: StaWü, Polizeidirektion Würzburg 195 | Foto von Gustav Steigerwald in einer Polizeiakte von 1937 im Staatsarchiv Würzburg.

Im gerade erschienen Jahrbuch der Stadt Karlstadt geht der Autor dieses Artikels der Frage nach, wie es zu den Vorfällen kommen konnte. Die damals Verdächtigten kamen am 3. November wieder auf freien Fuß, einen Prozess gab es offenbar nie. Steigerwald machte als Viehhändler mit diesen – einem Vater, seinen zwei Söhnen und einem Flüchtling aus Ostpreußen – gemeinsame Geschäfte. Der Letzte noch lebende Verdächtigte, der vor einigen Jahren starb, beteuerte, an der Sache sei nichts dran gewesen. Steigerwald sei zudem sehr unbeliebt gewesen, was auch andere Wiesenfelder noch heute sagen.

Steigerwald war Veteran des Ersten Weltkriegs

Der Veteran, der durch eine Kriegsverletzung im Ersten Weltkrieg steife Beine hatte, war ein bemerkenswerter Mensch. Er wanderte nicht etwa aus wie viele andere Überlebende, sondern kehrte ins kleine Wiesenfeld zurück und sorgte dort für viel Wirbel. In einem Schreiben an die Wiedergutmachungsbehörde von Unterfranken vom 27. August 1949 schrieb er: "Steigerwald sollte im KZ vergast werden, aber die Rechnung der Herrn damals ist nicht aufgegangen. Steigerwald ist jetzt wieder persönlich da und wird sein Recht beanspruchen." Er wollte Wiedergutmachung für das ihm widerfahrene schwere Unrecht (seine jüngere Tochter Berta wurde von den Nazis ermordet) und wohl auch Rache.

"Steigerwald ist jetzt wieder persönlich da und wird sein Recht beanspruchen."
Gustav Steigerwald in einem Schreiben an die Wiedergutmachungsbehörde

Er prozessierte bis an sein Lebensende 1959 gegen den Staat und Einzelne, etwa wegen verkauften Viehs, für das ihm, einem rechtlosen Juden, in der NS-Zeit kein Geld bezahlt worden war, oder auf Herausgabe zwangsversteigerter Möbel nach dem erzwungenen "Umzug" der Steigerwalds 1942 ins "Altersheim" Würzburg. Man erzählt sich, dass er zudem ein paar Wiesenfelder, darunter einen der NS-Bürgermeister und den ehemaligen Ortsbauernführer, für ihr damaliges Verhalten ihm gegenüber büßen und unentgeltlich für ihn Feldarbeit hat machen lassen.

Gustav Steigerwald zog es neben das Rathaus

Steigerwald hatte zwar sein Haus am Kirchberg wiederbekommen, aber er wollte unbedingt in ein Haus in der Hauptstraße (heute Karlstadter Straße 16) gegenüber vom Rathaus ziehen. Dieses hatte dem ermordeten Juden Max Baum gehört. In angeblich mehreren Gerichtsverfahren habe Steigerwald letztlich das Haus bekommen, obwohl die inzwischen dort wohnende Familie das Haus rechtmäßig erworben habe, wie es heißt.

Das ehemalige Wohnhaus von Gustav Steigerwald in der Hauptstraße von Wiesenfeld, gegenüber vom ehemaligen Rathaus.
Foto: Björn Kohlhepp | Das ehemalige Wohnhaus von Gustav Steigerwald in der Hauptstraße von Wiesenfeld, gegenüber vom ehemaligen Rathaus.

In einem Fall schoss Steigerwald in Sachen Wiedergutmachung offenbar übers Ziel hinaus, wie Akten im Staatsarchiv belegen. Er behauptete, einen 1943 beschlagnahmten Ford, der einem Wiesenfelder gehört hatte, habe er 1936 mit diesem gemeinsam gekauft. Im Oktober 1948 forderte er den Wagen, den inzwischen ein Thüngener Arzt fuhr, zurück. Dann kam aber heraus, dass Steigerwalds Version nicht stimmte, weswegen Anfang der 1950 wegen Betrugs und Unterschlagung gegen ihn ermittelt wurde.

Die Tricks des gerissenen Viehhändlers

Und dann war da noch Steigerwalds Geschäftsgebaren. Seinen Viehhandel hatte er nach seiner Rückkehr gleich wieder aufgenommen. Dabei habe er Bauern mitunter übers Ohr gehauen. Reinhold Schuhmann erinnert sich, dass er als Bub dabei war, als sein Onkel dem Nachbarn Steigerwald beim "Verjüngen" einer alten Kuh, die Steigerwald verkaufen wollte, geholfen habe. Dabei seien Hörner alter Kühe verkürzt und auf jung getrimmt worden. Er weiß auch zu erzählen, dass Steigerwald die Familie der Verdächtigen, die nach dem Krieg oft schwarzschlachtete und viel Fleisch nach Frankfurt schaffte, mehrfach angeschwärzt und bei gemeinsamen Geschäften übervorteilt habe. Dafür hätten ihm diese immer wieder "Streiche" gespielt.

Steigerwald starb am 30. September 1959 im Alter von 79 Jahren nach einem Sturz über die Treppe. Seine ältere Tochter Erna Freimann wanderte nach Palästina aus. Steigerwalds hebräisch-deutsches Gebetbuch ist heute in der ehemaligen Synagoge in Wiesenfeld verwahrt.

Das Karlstadter Jahrbuch mit 250 Seiten kostet 19,80 Euro. Verkaufsstellen in Karlstadt: Buchhandlung Schöningh, Schmidt & Kurtze, Stadtladen Warmuth, creativ schenken sowie der Dorfladen in Wiesenfeld.

 
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