Noch halten Rebellen den Ostteil der schwer umkämpften syrischen Großstadt Aleppo. Doch Ost-Aleppo ist von der Regierungsarmee belagert, die Versorgungsrouten sind abgeschnitten. Syrien und Russland drohen, das ganze Stadtgebiet mit 275 000 Einwohnern, unter ihnen rund 100 000 Kinder, völlig in Schutt und Asche zu legen. Einer, der aus dem Ostteil der Stadt stammt, ist der 41-jährige Faris, der aus Angst um seine Familie, die noch in Aleppo lebt, nicht möchte, dass sein richtiger Name in der Zeitung steht.
Auch fotografiert werden möchte der große, hagere Mann mit den kurzen grauen Haaren nicht. Faris lebt seit über einem Jahr in Gemünden, seit drei Monaten ist auch seine junge Frau, 21, hier.
Leben ohne Essen
Was er von seinem in Aleppo zurückgebliebenen Vater und den beiden Brüdern mit Familien weiß, klingt beunruhigend. Sie hätten kaum etwas zu essen, auch wenig zu trinken, keine Medikamente, Möbel seien zerstört, Elektrizität praktisch nicht mehr vorhanden. Waren, so es sie überhaupt gibt, kosten jetzt ein Vermögen. Gleichzeitig dräut die Zerstörung ihres Viertels, in dem sie gefangen sind. Kontakt mit seiner Familie in Syrien hält Faris über Telefon, wobei der nur einmal die Woche oder gar nur einmal in zwei Wochen zustande komme.
Elternhaus ist zerstört
Auf seinem Handy zeigt er ein Bild eines Neffen vor Faris' Elternhaus. Man sieht ein unansehnliches, graues, vierstöckiges Gebäude, in dem der 41-Jährige zuletzt unter anderem mit seiner Frau, seinem Vater, seinen Brüdern und dessen Familien gelebt hat. Das Haus existiert nicht mehr, auch das Haus daneben nicht. Schon vor rund zwei Jahren machte eine der gefürchteten Fassbomben, wie sie Regierungstruppen immer wieder über „feindlichen“ Städten und Stadtteilen abwerfen, das Haus, das sich ganz in der Nähe der von Assad-Truppen gehaltenen Zitadelle von Aleppo befand, dem Erdboden gleich.
Aus Furcht vor solchen Angriffen habe die gesamte Familie schon zuvor nur ganz unten im Haus geschlafen, während draußen die Einschläge zu hören waren: „Bumm! Bumm! Bumm!“, unterstreicht Faris. Fürchten müssen sie auch die Scharfschützen auf der Zitadelle.
Sein Töchterchen war herzkrank
Ansonsten ist das Gespräch mit dem Syrer im Café des Gebrauchtwarenkaufhauses Intakt, wo er bis vor kurzem einen Ein-Euro-Job hatte, etwas mühsam, da er gerade erst einen Platz in einem Deutschkurs bekommen hat, und deshalb wenig Deutsch und kein Englisch kann. „Ich fahre mit dem Bus“, ist einer der neuesten Sätze, die er gelernt hat. Ein kurdischer Landsmann, der schon etwas besser Deutsch spricht, hilft beim ersten Gespräch.
So erfährt der Reporter, dass Faris' wenige Monate alte Tochter, die er nie persönlich kennenlernte, in der Türkei starb. Dort wartete seine nach ihm geflüchtete Frau mit dem Kind darauf, dass er sie nach Deutschland holen durfte. Er fasst sich ans Herz, um zu verdeutlichen, dass das Kind herzkrank war. Das wenige Geld, das er von schicken konnte, reichte nicht für Medikamente und die wohl notwendige Operation. Auch ein direktes Kriegsopfer hat seine Familie zu beklagen. Als Faris noch in Aleppo war, sei sein elf Jahre alter Neffe beim Spielen mit anderen Kindern in der Nähe des Hauses von einem Granatsplitter getötet worden. Die Familie lebe in ständiger Angst.
So weit die Füße tragen
In Aleppo handelte Faris mit Gold. Er sei ein kleiner angestellter Händler gewesen, der mit einer Tasche unter dem Arm ohne festen Arbeitsplatz seinen Geschäften nachging, erzählt er. Doch im Krieg habe er seit drei Jahren nichts verdient. Jacqueline Urlaub, seine Chefin im Intakt, erzählt, dass er am Anfang sehr zurückhaltend gewesen sei. Nach und nach sei Faris aber regelrecht aufgetaut und habe Vertrauen zu ihr gefasst, sagte sie. Er sei eigentlich ein fröhlicher und sehr sozialer Mensch, und sehr fleißig sei er gewesen. Das nötige Geld für die Flucht hätten er und seine Frau, im Gegensatz zu seinem alten Vater und zwei Brüdern mit Familie, die in Aleppo bleiben mussten, immerhin noch aufbringen können, sagt Faris. Er machte den Anfang, zog alleine los, über die Türkei und Griechenland die Balkanroute entlang bis nach Passau. Seine schwangere Frau floh später alleine in die Türkei. Weite Strecken musste Faris zu Fuß laufen, wochenlang unter offenem Himmel schlafen.
Beamter hielt die Hand auf
Nun ist er seit gut einem Jahr in Gemünden, hat als anerkannter Flüchtling eine Wohnung für sich und seine Frau gefunden. Die habe irgendwann nachkommen dürfen, aber beim Abflug sei es noch einmal spannend geworden, weil trotz gültigem Visum für Deutschland offenbar ein türkischer Beamter noch einmal die Hand aufgehalten habe. Faris selbst hätte das nötige Schmiergeld von 300 Euro nicht aufbringen können, aber zum Glück habe ihm seine Familie helfen können. Noch trägt seine Frau Kopftuch, aber sie überlege, es abzulegen. Ihm sei es egal.
Etwas verwunderlich mutet an, dass Faris, der gut italienisch kann, nicht nach Italien geflüchtet ist. Schließlich war er schon einmal sechs Jahre in Italien, hat einen Bruder und eine Schwester dort, die schon lange dort leben. Aber in Italien, glaubt er, hätte er keine Perspektive gehabt, „keine Arbeit, keine Schule, keine Hilfe“. Er würde am liebsten nie mehr nach Syrien zurück, was solle er dort, sein Elternhaus stehe nicht mehr, womöglich liege bald der ganze Stadtteil in Schutt und Asche. Seine Geschwister leben weit verstreut: Aleppo, Deutschland, Türkei, Italien und Dubai. So freut er sich, nach dem Tod der Tochter, doch noch eine eigene Familie aufbauen zu können: Seine junge Frau ist wieder schwanger.