"Es geht euch doch so gut!", wurde in der Nachkriegszeit den Heranwachsenden immer wieder gesagt. Sie sollten nur nach vorne schauen und die Vergangenheit verdrängen. Genau diese Thematik nimmt die in Lohr aufgewachsene Autorin Stefanie Gregg, geborene Hüttinger, in ihrem gerade erschienenen Roman "Nebelkinder" auf. So nennt man in der modernen Psychologie die Generation der Kriegsenkel, die wenig oder gar nicht über die Kriegs- und Fluchterfahrungen mit ihren Eltern und Großeltern sprechen konnten. Dies hat in vielen Menschen Traumatisierungen und Spuren hinterlassen, die erst sehr spät aufgearbeitet werden konnten. Drei Jahre recherchierte und schrieb die Autorin zu diesem Thema eine Familiengeschichte über drei Generationen. Wir fragten Stefanie Gregg, wie sie selbst in ihrer Jugend und Familie diese Problematik erlebt und in ihrem Roman verarbeitet hat. "Über den Krieg wurde kaum gesprochen", sagt sie im Interview.
Stefanie Gregg: Nein. Da war auch ich ein typisches "Nebelkind". Über den Krieg wurde kaum gesprochen. Manchmal über die Flucht. Doch als Kind erschienen mir die sicher geschönten Erzählungen eher wie ein großes Abenteuer. Mein Großvater, ein großer Erzähler, von dem ich viel geerbt und gelernt habe, hat uns Kindern von der Odyssee bis zum letzten Fernsehkrimi alles als wundervolle Gute-Nacht-Geschichten erzählt – doch nie hat er mit mir über den Krieg gesprochen.
Gregg: Wohl beides. Man sprach allgemein ungern darüber und glaubte wohl auch, die Kinder und sich selbst damit nicht belasten zu wollen. Wie in fast allen Familien wollte man diese Zeit lieber als abgeschlossenes Kapitel sehen, lang her, zum Glück weit entfernt von der jetzigen, guten Realität. Soweit ich mich erinnere, habe ich auch wenig Fragen gestellt. Die Zeit war zu weit fort, so dass es keinen Gesprächsanlass gab. Im Verlauf der Arbeit an diesem Buch habe ich mit vielen Fremden, aber auch mit meinen Eltern gesprochen. Plötzlich kamen Erinnerungen hoch.
Gregg: Absolut. Das war uns allen ganz klar. Wir waren ja auch die Generation, die offen die Last, gar die Schande auf unsere Schultern genommen hat. Wir wuchsen in der Schule bereits mit einem sehr kritischen Geschichtsverständnis auf, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg wurden ausführlich thematisiert. Im Deutschunterricht lasen wir Brecht, Böll, Borcherts "Draußen vor der Tür", Celans "Todesfuge" und so weiter. Wir wussten, dass über diese Themen vieles verdrängt und verschwiegen worden war. Uns war aber nicht bewusst, wie stark dieses Verhalten sich noch auf uns, unsere Kindheit, unsere Gefühle, unser Weltbild auswirkte. Im Ausland habe ich mich damals geschämt, eine Deutsche zu sein. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, eine Deutschlandfahne irgendwohin zu hängen – was die jetzige Jugendgeneration mit einem kritisch-gesunden Nationalbewusstsein wieder tut, zumindest in den meisten Fällen und zur Fußball-Weltmeisterschaft.
Gregg: Im Laufe der Recherche bin ich darüber gestolpert. Dann habe ich festgestellt, dass es Internet-Foren gibt, in denen sich die Kriegs-Enkel zusammenfinden und ihre Erfahrungen erzählen, miteinander teilen und darüber nachdenken. Mir ist klar geworden, dass es ein großes Thema ist, auch für mich persönlich, und für meine ganze Generation.
Gregg: Ich fand ein altes Bild meiner Großmutter. In einer Gruppe schick gekleideter junger Menschen stand meine Großmutter, jung, wunderschön, in einem weißen Charleston-Kleid, kokett mit einem weißen Schal um den schmalen Hals geworfen. Daneben stand "Hausball bei Bell. 1926". Immer wieder sah ich auf das großbürgerliche Ambiente, die strahlende Frau, im Mittelpunkt des "Hausballs" – was für ein verheißungsvolles Wort – und verglich sie mit der mir als Kind immer ein wenig traurig erscheinenden, recht schweigsamen Großmutter, die ich kannte. Und fragte mich, wann diese unbändige Lebenslust ihr verloren gegangen war.
Gregg: Ich bin Schriftstellerin, weder Biografin noch viel weniger Autobiografin. Die Lebensgeschichte meiner Familie ist auch meine eigene. Ich will nicht mit Geschichten über mich erzählen, sondern Figuren entwerfen, die andere berühren. Und in denen andere sich vielleicht auch wiederfinden können.
Gregg: Das Buch ist nun gerade drei Wochen auf dem Markt. Und schon erhalte ich Briefe, die mir sehr nahe gehen. Die jeweiligen Generationen fühlen sich gespiegelt und finden eigene Erlebnisse wieder. Ein Kriegskind berichtete mir von dem spät aus Russland heimkehrenden Vater mit seinen grundlos ausbrechenden Gewaltattacken, die ihre Mutter wenig berührten, als sie später darüber sprechen wollte. Meine Generation der Nebelkinder erkennt sich erstaunlich oft in der Figur der Kriegs-Enkelin Lilith aus meinem Roman wieder, wenn sie an ihre distanzierten Eltern denkt und die Aufforderungen, die sie zu hören bekam: "Sei mal dankbar" und "Mach was aus dir!"