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LOHR/STOCKHOLM
Ein Lohrer in Schweden
Björn Kohlhepp
 |  aktualisiert: 03.12.2019 09:57 Uhr

Der Lohrer Michael Wirzberger, 51, lebt schon fast die Hälfte seines Lebens in Schweden. Einst kam er über ein Praktikum bei Rexroth nach Stockholm. Er gründete dort eine Familie und arbeitet seit Jahren in leitender Position. Den Terroranschlag im April auf ein Kaufhaus in der Stockholmer Innenstadt, zu dem er eine besondere Beziehung hat, hat Wirzberger praktisch live miterlebt, wenn auch aus sicherer Entfernung.

Wie in Schweden üblich hat auch die Familie Wirzberger, zu der seine Frau Susanne, seine Tochter Rebecca, 21, sein Sohn Alexander, 16, zwei dänisch-schwedische Hofhunde und vier Vögel gehören, ein Sommerhäuschen. Ihm gefällt an Stockholm das Großstädtische auf der einen Seite und die Nähe zur Natur auf der anderen, erzählt er.

Das Sommerhaus liegt rund 90 Kilometer von Täby, einem Stockholmer Villenvorort, wo die Familie lebt, entfernt – und zwar auf einer Insel in den Schären. Dort genießen sie die Ruhe, verbringen dort im Sommerurlaub viel Zeit, feiern mit Freunden Mittsommer, fahren Boot. Im Frühling erst hat er am Häuschen vier Meter vor sich einen Elch gesehen.

Wirzberger ist in Lohr aufgewachsen. Als er ungefähr 12 war, zog die Familie nach Wombach. Der leidenschaftliche Tennisspieler, der auch in der ersten Lohrer Herrenmannschaft „herumbolzte“, wie er sagt, besuchte die Realschule, danach die Fachoberschule in Marktheidenfeld. Sein Lebenslauf zeigt, dass Schulnoten nicht unbedingt immer etwas darüber aussagen, was aus einem wird. Einmal blieb er sogar sitzen. „Ich habe das Lernen zu spät gelernt“, sagt er im Rückblick. Geschadet hat es ihm nicht.

Jede Woche ein Flug

Denn heute ist er kaufmännischer Leiter einer schwedischen Firma namens Etac. Etac stellt Behindertenhilfsmittel her, darunter Rollstühle, Duschhocker, Greifzangen. Er ist verantwortlich für Finanzen, IT, Personal und Logistik. Wirzberger ist ein entspannter Chef, der immer ein offenes Ohr für seine Mitarbeiter hat und dessen Lieblingsfrage „Allt under kontroll?“ („alles unter Kontrolle?“) ist. Etac hat 800 Mitarbeiter, fertigt auch in Dänemark und Norwegen und hat zwei Tochterfirmen in den USA. Deswegen kommt Wirzberger viel herum, fliegt im Schnitt einmal die Woche.

Seine Frau Susanne, eine Schwedin, hat er vor mittlerweile 30 Jahren in Stockholm kennengelernt. Damals, zwischen der Bundeswehr in Hammelburg und dem FH-Studium in Rosenheim, war er für ein Praktikum bei Rexroth in der schwedischen Hauptstadt. Beim Ausgehen traf der Schwedenfan, der schon vorher zweimal dort Urlaub gemacht hatte, auf Susanne. Wegen Susanne zog es ihn auch während des Studiums für Praktika und ein Auslandssemester nach Stockholm.

Die Liebe zog ihn in den Norden

Nach dem Studium heuerte er 1990/91 bei Siemens in Stockholm an. Ende der 90er lebte Wirzberger mit seiner Frau und Tochter Rebecca zwischendurch drei Jahre auf den Philippinen. Von 2000 bis 2012 war er kaufmännischer Leiter für Skandinavien bei Bosch Siemens Hausgeräte bzw. – wie es auf Schwedisch heißt – Bosch Siemens Hushaallsapparater (BSH).

Irgendwann habe er sich die Frage gestellt: „Jetzt wirst du bald 50. Willst du immer bei derselben Firma bleiben?“ Wie auf Führungskräfteniveau nicht unüblich, erhielt er einen Anruf von einem sogenannten Headhunter, zu deutsch: Personalvermittler, der ihn für Etac abwarb. Ein Vorteil der neuen schwedischen Firma: Da die Schweden im Sommer alle Urlaub machen, bekommt er im Sommerhaus weniger Mails als noch bei der deutschen Firma BSH. Als Führungskraft muss er die auch im Urlaub im Auge haben.

Schwedisch hat er schnell gelernt, erzählt er. Einen Kurs machte er, ansonsten hat ihm beim Wortschatz Deutsch und Englisch schon viel geholfen – und vor allem schwedisch untertitelte englische Filme. Sein Sohn Alexander korrigiere ihn aber schon, seit er zehn ist, immer wieder. Ab und zu macht Wirzberger doch einen Grammatikfehler, gibt er zu. Der Sohn hat dafür eine Eins in Deutsch.

Zum Zeitpunkt, als das Attentat auf das Kaufhaus AAhléns im Zentrum Stockholms verübt wurde, telefonierte Wirzberger gerade mit einer Kollegin, die nicht weit entfernt davon ihr Büro hat. „Ich habe die ganze Zeit die Sirenen gehört über ihr Mikrofon“, erzählt er. Die Verbindung sei immer schlechter geworden, weil plötzlich Zehntausende Menschen mit dem Handy telefonierten.

Den Grund dafür und für die Sirenen erfuhr Wirzberger erst kurz nach dem Telefonat. Im betroffenen Kaufhaus hatte Wirzberger sein erstes FH-Praktikum absolviert. Aber Terrorangst herrsche in Schweden nicht, sagt er.

Der leidenschaftliche Dortmund-Fan verfolgt weiterhin, was in Deutschland passiert, so natürlich auch die Berichterstattung zum Anschlag auf den BVB-Bus. Im Oktober/November war er mit seiner Familie zuletzt in Deutschland, hat bei der Gelegenheit auch gleich ein BVB-Spiel im Stadion angeschaut.

Entspanntere Lebenseinstellung

„Ich fühle mich sehr wohl in Stockholm“, sagt er. Allerdings könnte er sich nicht vorstellen, in der schwedischen Provinz zu leben, in die es jeden Sommer Scharen von Deutschen zieht. An Schweden schätzt er die etwas entspanntere Lebenseinstellung, die lockereren Kleidungsvorschriften in Unternehmen und guten Fisch – bis auf surströmming, die schwedische Spezialität aus verfaultem Fisch. Ein weiterer Vorteil: „Ich habe deutlich weniger Heuschnupfen in Stockholm als in Lohr.“

Sehnsucht nach gutem Brot

Was er an Lohr vermisst? Gutes Brot, Schafkopf und Tennis auf Asche. Er steht zwar jeden Samstag auf dem Tennisplatz, aber in Schweden bedeute das immer: in der Halle. Auf seinem Handy spielt er außerdem jeden Abend zwei bis vier Runden Schafkopf. Mittlerweile gebe es zwar in Stockholm nicht mehr nur süßes, weiches Brot, sondern auch gutes Weißbrot, aber einen Weck oder ein Brot wie in Lohr noch nicht. Und die Aufbackbrötchen vom Lidl schmecken auch nicht so gut wie seinerzeit beim Wombacher Bäcker.

 
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