Da staunten einige Passanten am Mittwochnachmittag in Gemünden, als sich ein Bagger der Firma Brückner-Bau mit außergewöhnlicher Last vom Baumgartenweg in die St.-Bruno-Straße bewegte. An seinem Ausleger baumelte eine etwa 800 Kilogramm schwere, historische Telefonzelle, wie man sie aus britischen Städten kennt. Das knallrote, gusseiserne Exemplar stand seit 1997 im Vorgarten des Einfamilienhauses der Familie Konradt und folgte dem Ehepaar nun in das neue Domizil, die Seniorenwohnanlage in der St.-Bruno-Straße.
Vor 16 Jahren schenkten Freunde Karin Konradt-Dittmer die rote Zelle zum Geburtstag. Konradt-Dittmer und Ehemann Dieter Konradt sind pensionierte Lehrer und ausgesprochene England-Fans. Fritz und Angelika Mörtl, von der ehemaligen, gleichnamigen Gemündener Firma, die heute in Starnberg leben, waren damals die Hauptakteure, erinnert sich Karin Konradt-Dittmer: „Sie haben irgendwo in der Mitte von England, auf dem Land, das Telefonhäuschen aufgetan. Da dranzukommen, war gar nicht einfach.“
British Telecom stellte neue, pflegeleichte und besser gegen Vandalismus geschützte Telefonzellen auf, wollte sich ein neues Image geben und verkaufte die alten, gusseisernen Häuschen in den 1990er Jahren in alle Welt. Weil es so viele Nachfragen gab, existierte sogar eine Warteliste. „Aber eines Tages war es soweit, ich durfte davon allerdings nichts erfahren und musste am Geburtstag in einem Silbenrätsel erraten, was mein Geschenk war“, erinnert sich Karin Konradt-Dittmer.
Das „Ding“, Baujahr ungefähr 1935, sei in einem miserablen Zustand gewesen. Mitarbeiter der Firma Mörtl sandstrahlten die Zelle, setzten neue Glasscheiben ein und verpassten ihr den typischen Anstrich in kräftigem Rot. Später hat Konradt-Dittmer über Bekannte einen Kirchenrestaurator kennengelernt, der die im oberen Teil als Relief angebrachten Königskronen mit Blattgold belegte. In Gold erstrahlten sie nur in der Hauptstadt London, auf dem Land genügte einfache Bronzefarbe, weiß die England-Expertin. Der neuerliche Umzug an sich ging relativ einfach über die Bühne, obwohl die Besitzerin des Schmuckstücks schon vor Aufregung einige Nächte nicht schlafen konnte, wie sie bekannte.
Die Helfer und Freunde um Alfons Lindner, einen Lehrerkollegen, mussten leider die obersten Glaselemente einschlagen, um die Tragegurte durchzuziehen. Die Bedenken, ob denn das mit dem Transport klappe, räumte Seniorchef Franz Brückner umgehend aus: „Das ist für uns kein Problem.“
Was der erfahrene Baggerfahrer Bernhard Kotitschke bestätigte. Nach kurzer Justierung der Gurte hob er die Zelle hoch, ließ sie auspendeln und fuhr mit ihr im Schritttempo die etwa 600 Meter in Richtung der St.-Bruno-Straße zum neuen Standort. Nachbarn und Freunde begleiteten den Umzug, und einige entgegenkommende Autofahrer wunderten sich über das schwere Fahrzeug mit der exotischen Last am Haken. Am neuen Standort an der Seniorenwohnanlage, hinter dem Kreisseniorenheim, angekommen, lief die Endphase der Aktion ebenso routiniert ab wie der Start. Zentimetergenau setzte Baggerführer Kotitschke die Telefonzelle auf das vorbereitete Podest, bevor zuletzt die Tragegurte entfernt wurden. Karin Konradt-Dittmer brachte innen noch die Ausstattung an: Ein altes schwarzes Telefon der Deutschen Bundespost mit Wählscheibe und ein Bild zum Thema telefonieren. Dann stießen die Freunde des „British Way of Life“ auf den gelungenen Umzug an.
Architekt Winfried Spahn und die Familienmitglieder der Baufirma Brückner, die auch Eigentümer der neuen Wohnanlage ist, waren sich einig, dass der Platz am Eingangsbereich des hellen Gebäudes richtig gewählt ist. Die Telefonzelle sei mit dem kräftigen roten Anstrich ein interessanter Farbtupfer und ein richtiger „Hingucker“. Die für den Transport eingeschlagenen Scheiben werden umgehend wieder ersetzt, die Wartung ist garantiert und in der Nacht wird die Telefonzelle in sanftem Licht erstrahlen.
Übrigens: Telefonieren kann man auch in der alten Telefonzelle, allerdings nicht wie in früheren Jahren mit Wählscheibe und verkabeltem Apparat, sondern ganz zeitgemäß mit dem Handy.