Die Stargäste des Fachtags „Grenzgänge – wieviel ,Wahnsinn‘ verträgt der Mensch?“ der Regierung von Unterfranken im Festsaal des Bezirkskrankenhauses Lohr waren der Liedermacher Konstantin Wecker und die Münchner Schauspielerin Michaela May. Vor über 200 Besuchern sprach vor allem Wecker recht offen über seine Drogenexzesse und die Facebook-Hasstiraden von Neonazis gegen ihn wegen seines humanitären Engagements für Flüchtlinge und Pazifismus.
Wecker war eigentlich gekommen, um den bekannten deutsch-schweizerischen Schriftsteller Arno Gruen zu treffen. Da dieser aus gesundheitlichen Gründen absagen musste, trug Wecker den Text seines Kollegen vor – untermauert mit eigenen Erfahrungen.
Unter der Überschrift „Der Wahnsinn der Normalität“ kritisierte Gruen, dass der Maßstab für die Abgrenzung von normal und Wahnsinn heute ausschließlich über den Grad des Realitätsbezuges beurteilt werde. „Wir glauben, unser Denken sei realistisch, wenn es von Mitgefühl befreit ist, von der Fähigkeit, Schmerz zu teilen, Leid zu verstehen, und vom Gefühl der Verbundenheit mit allen Lebewesen.“
Wahnsinn ist deshalb für Gruen auch die Verleugnung des Menschlichen derer, die sich ganz ausschließlich der „Realität“ widmen. Sie gäben sich ein menschliches Antlitz, hätten aber keinerlei entsprechende Gefühle.
Ursache für diese Entwicklung sei ungenügende Zuwendung von Geburt an. Andauernder körperlicher Kontakt mit den Säuglingen, auf der Hüfte unter dem Arm getragen und auch beim Kochen nicht abgelegt, fördere Empathie. Heute jedoch werde von Kindern abstraktes Denken erwartet, eine schnelle Selbstständigkeit. Reizüberflutung führe zur dauernden Erfahrung einer Hilflosigkeit, zur Angst vor Nähe. Was als „Liebe“ erlebt werde, sei nicht die Liebe für die Individualität des anderen, sondern Eigenliebe.
Gruen fordert dazu auf, an das Fundament unserer, die Empathie unterdrückenden, Zivilisation zu gelangen und Wettbewerb, Egoismus, Profitdenken, Wachstum und Leistung in Frage zu stellen.
Plädoyer für Flüchtlingshilfe
Der Text von Arno Gruen spiegele sein eigenes Erleben, so Konstantin Wecker: „Ich wurde für das, was ich singe, sage und tue schon immer von Neonazis bedroht“. Jetzt, wo er Stellung nehme zur Flüchtlingsproblematik, noch viel mehr. Da sei sogar er geneigt auf Facebook-Hass mit Aggression zu reagieren. „Das, was wir an anderen verteufeln, wohnt auch in uns“, aber das dürfe nicht Oberhand gewinnen, betonte er.
Beim Thema „Wahnsinn Sterben“ beschrieb er drei Phasen, die er durchmachte: „Zuerst habe ich mit dem Tod kokettiert“, sagte er. In der zweiten Phase habe er sich mit seinem Drogenmissbrauch fast umgebracht. Die dritte Phase sei geprägt gewesen vom Tod seiner Eltern: „Auch wenn meine Kinder mir nichts zurückgeben würden, könnte ich sie bedingungslos lieben.“
Als Jugendlicher habe er auch schon im Zorn das Haus verlassen. Heute schließe er erst die Tür, wenn er mit seinen Mitmenschen im Reinen sei, „sonst wäre das letzte Bild, das man im Tod hätte, ein wütendes Gesicht“.
„Wenn der Sommer nicht mehr weit, der Himmel ein Opal ...“, singend, ohne instrumentale Begleitung ließ Wecker seinen Beitrag für diesen Fachtag ausklingen. Lange nahm er sich noch Zeit für Gespräche mit den Besuchern und gab Autogramme auf seine CDs mit Widmung in seine Bücher und sogar auf die Gitarre von Werner Hartmann. Die Veranstalter bedankten sich bei ihm wie bei jedem der Referenten mit einem Porträt von dem Partensteiner Künstler Wolfgang Schmelz.
„Frau May, Sie sind ja ganz normal“, bekomme sie oft zu hören, so die Schauspielerin Michael May – bekannt aus Filmen wie Kir Royal oder Monaco Franze –, wenn sie jemand beim Einkaufen anspreche. „Auch ich muss meine Zahnbürste einkaufen“, erwidere sie dann gerne. „Jedoch haben wir Schauspieler einen Beruf, der uns aufgrund unserer Egozentrik über das Normale hinausführt“, fügte Michaela May hinzu. „Unser Werkzeug ist die Seele“.
Statt eines Referates trug sie zwei „wahnsinnige“ Texte von Doris Dörrie vor.
Die beiden Promis gaben denn auch die Richtung dieses Tages an. Keine neuen, herausragenden Forschungen, sondern Informationen, Anregungen und Nachdenkliches aber auch Unterhaltsames wurde den Mitarbeitern in Pflegeeinrichtungen und Wohnheimen, Ärzten, oder auch in der Familie pflegenden Angehörigen geboten.
Der ärztliche Direktor des Bezirkskrankenhauses, Professor Dr. Dominikus Bönsch, gewährte Einblick in die Psychiatrie vor 100 Jahren: „Einsperren oder arbeiten – aus heutiger Sicht verschiedene Formen der Folter“. Die Jahre 2008 und 2014 stellte er in einem Vergleich gegenüber: „Die Erkrankungen werden nicht mehr, aber es finden immer mehr Menschen den Weg zu uns“. In Unterfranken sei vor allem die Zunahme jugendlicher Patienten eine Herausforderung an die Kliniken. Die Gesellschaft werde psychiatrisiert, kritisierte er. „Wenn wir unsere Maßstäbe anlegen ,ist keiner mehr normal, jeder kriegt seine Diagnose.“
„Meine Damen und Herren, liebe Mitsterbliche“, begrüßte Dr. Heribert Joha die Zuhörer. Tausende Tote, gegenwärtige Opfer der massenhaften Fluchtbewegungen, das sei aktuell der „Wahnsinn des Sterbens“. Im Gegensatz dazu die „Faszination Tod“ im Computerspiel oder im wöchentlichen „Tatort“.
Eigentlich seien Ärzte „Kämpfer für das Leben“. Was früher Angehörige, Geistliche und Pflegekräfte geleistet hätten, sei nun aber auch Aufgabe von Palliativmedizinern.
Irgendwann muss jeder heim
Joha stellte drei Fälle vor, die die Zuhörer auf sich wirken lassen sollten: Ein Mann im mittleren Alter, eine alte Dame, ein 29-jähriger. Unterschiedlich die Gründe für die Aufnahme auf der Palliativstation. Mit dem Tod überschreiten nicht nur die Sterbenden eine Grenze. Auch Angehörige machten Grenzerfahrungen, die Ärzte, das Pflegepersonal.
„Mit unseren heutigen ärztlichen Möglichkeiten können wir Leben verlängern“, so Joha, „aber wenn es dann ans Sterben geht, sollen wir schnell machen“, schildert er das Problem. Es sei das Gespür verloren gegangen, „wann es soweit ist“. „Her mit dem schönen Leben“, forderte Joha auf, das Dasein zu schätzen, jeden Tag zu genießen. „Irgendwann muss jeder heimgehen, egal wo das dann ist.“
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