„In Russland stand Protestieren nicht auf der Tagesordnung. […] Deswegen protestierten wir am liebsten in der Küche, schrieben uns aus Protest krank oder boykottierten das Zeitungslesen. Andere betranken sich aus Protest“, schreibt der russlandstämmige Autor Wladimir Kaminer in seinem neuen Buch „Goodbye, Moskau“.
Dieses Werk feierte nun im Rahmen der Veranstaltungsreihe LesART, die heuer ihr zehnjähriges Bestehen feiert, im Karlstadter Rathaussaal Vorpremiere. In seinem neusten Buch widmet sich der Erfolgsautor ganz seinem Heimatland Russland und versucht, aktuelle Entwicklungen ohne jegliche Distanz, stattdessen mit vielen persönlichen Geschichten und Eindrücken dem Leser zu erklären.
„Ein Land, das ihm“, wie er schreibt, „mittlerweile so fremd erscheint.“ Doch je ernster die Thematik, umso mehr arbeitete Kaminer im Verlauf seiner Lesung mit Witz und Humor. Das stieß im Publikum auf sichtlich positive Resonanz. Ohne Skript, aber mit viel guter Laune betrat Kaminer die Bühne und fesselte sein Publikum rund zwei Stunden mit einem unterhaltsamen, aber vor allem kurzweiligen Programm.
Entertainerqualitäten
Als Autor mit „Entertainerqualitäten“, wie es Moderator Jochen Diel von LesArt ausdrückte, fand Kaminer schnell einen Draht zu den Zuhörern, die sich besonders aufgrund seines spontanen und lockeren Auftretens und der vielen kleinen Anekdoten amüsierten. Doch obgleich er sich immer wieder beispielsweise mit einem Witz über russische Kosmonauten über sein Heimatland lustig machte, verzichtete er stets auf beleidigende Aussagen.
„Er schafft es, auch ohne platte Witze, Vorurteile und Stereotypen das Publikum mit der Beziehung zwischen Russland und Deutschland zu unterhalten“, meinte Bürgermeister Paul Kruck nach der Lesung. Immer wieder schweifte Kaminer während seines Auftritts ab, griff auf kleine Geschichten aus seinen anderen Büchern zurück und philosophierte beispielsweise über die deutsche Schrebergartenkultur, das Studentenleben seiner Tochter und das deutsche Schulsystem.
Schmunzelnd führte Kaminer aus, wie seine Neuerscheinung „Goodbye, Moskau“ entstand. Nachdem er die letzten Jahre mit großem Erfolg über seine Schwiegermutter, seine Kinder und seine Mutter geschrieben hatte, habe er in diesem Jahr das Terrain der Familienschriftsteller verlassen wollen. So habe er mit seinem Verlag, der vor allem breite Leserschichten ansprechen wolle, die Abmachung getroffen, ein Buch über politisch relevante Themen zu schreiben, dafür aber im Herbst im Gegenzug ein Buch über seine Frau zu veröffentlichen.
Dies verschaffte ihm den Freiraum, in „Goodbye, Moskau“ Russland in allen Facetten zu betrachten. Ob er über einen uralten Kühlschrank seiner Schwiegermutter und dessen bewegte Vergangenheit, die Annexion der Krim, die Stimmung der Bevölkerung in Russland oder die Situation der Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Russland schreibt, ist erst einmal zweitrangig.
Mit seinem Gespür für das Besondere in Alltagssituationen, dem hohen Grad an bildlicher Sprache, den vielen abschweifenden Passagen und den kurzweiligen Wendungen begeistert Kaminer seit vielen Jahren seine Leser. Sein trockener Humor, den er beim Schreiben in jede Zeile seiner Bücher hineinarbeitet, trägt dazu bei, dass die vielen knappen Geschichten einen hohen Unterhaltungswert bieten.
Trotz der vielen Überspitzungen ist aber hinter der Fassade aus Witz und Ironie, gerade in seinem neuen Buch, auch immer ein ernsthafter Hintergrund oder eine Botschaft erkennbar. „Meine Geschichten sind immer geprägt von menschlichen Tragödien. Ich versuche, meinen Lesern mit Humor einen Ausweg aus den daraus entstehenden Sackgassen im Leben aufzuzeigen“, sagt Kaminer. Sein Ansatz sei dabei, die Tragödien so zu erzählen, dass sie „von hinten betrachtet“, gar nicht mehr als so schlimm wahrgenommen werden.
Die Lesung im Karlstadter Rathaussaal gab dem Publikum die Chance, sich in die Gedankenwelt Kaminers, die sich in all seinen Bücher widerspiegelt, hineinzuversetzen. „Es hilft einem als Leser und Zuhörer, Hintergründe zu erfahren, um so seine Erlebnisse besser einordnen zu können“, erzählt die Besucherin Susanne Hofmann. Je aufmerksamer man Wladimir Kaminer während der Lesung folgte, umso klarer wurden einem als Zuhörer, wie seine Bücher entstehen. Er bedient sich Geschichten, die das Leben schreibt.
Wie das Sammeln von Pilzen
Dabei hat er eindeutig eine Begabung für das Beobachten seiner Umgebung sowie des Verhaltens und der Emotionen seiner Mitmenschen. Wie er im Gespräch mit dieser Redaktion erklärte, versuche er Woche für Woche zu verstehen, was passiert ist. „Das Schreiben meiner Bücher kann man mit dem Sammeln von Pilzen vergleichen. Wer sich fleißig genug bückt, findet viel Inspiration für neue Bücher“, erzählt Kaminer.
Bewusst habe er sich gegen die literarische Schöpfung neuer, utopischer Traumwelten entschieden, die ein Autor nach seinem Ermessen kontrollieren und gestalten kann. Er bediene sich lieber der alltäglichen Realität und folge dabei dem wahren Leben.