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Lohr
"Die Toleranz gegen Anderssein ist wahnsinnig klein": Was heißt es, psychisch krank zu sein?
'Was ist krank, was ist behandlungsbedürftig und wie viel wird akzeptiert?', lautete die Kernfrage von Dominikus Bönsch, Ärztlicher Direktor der Lohrer Klinik.
Foto: Ivana Biscan (Symbolillustration) | "Was ist krank, was ist behandlungsbedürftig und wie viel wird akzeptiert?", lautete die Kernfrage von Dominikus Bönsch, Ärztlicher Direktor der Lohrer Klinik.
Bearbeitet von Monika Büdel
 |  aktualisiert: 11.04.2024 02:49 Uhr

Was heißt es, psychisch krank zu sein? Einblicke dazu gibt der Film "Auf der Adamant". Diese Dokumentation hat die Volkshochschule Lohr-Gemünden in Zusammenarbeit mit den Stattkino-Akteuren Renate und Richard Winter und dem Bezirkskrankenhaus kürzlich in der Alten Turnhalle in Lohr gezeigt. Dominikus Bönsch, Ärztlicher Direktor der Lohrer Klinik, beantwortete Fragen aus den Reihen der zwei Dutzend Zuschauerinnen und Zuschauer.

Die Veranstalter hatten mit dem Film ein Thema aufgegriffen, das Bedeutung hat: Laut dem Psychiatrie-Facharzt Bönsch nehmen die Unterbringungen gegen den Willen der Betroffenen zu. Dieser Trend sei in Deutschland stärker als in anderen Ländern, in Bayern stärker als in Deutschland und am stärksten in Unterfranken. Da reiche schon ein buntes T-Shirt, überspitzte er. "Die Toleranz gegen Anderssein ist wahnsinnig klein", betonte Bönsch.

Psychisch kranke Menschen in einer Tagesklinik

Regisseur Nicolas Philibert zeigt in seiner Doku psychisch kranke Menschen in einer Pariser Tagesklinik. Es ist ein eigens dafür gebautes Schiff, eine Art Riesen-Hausboot. Die Adamant, die am Ufer der Seine vertäut ist. So ungewöhnlich sie von außen aussieht, so außergewöhnlich zeigt sich das Leben an Bord. Zumindest für Zuschauende, die deutsche Psychiatrie-Standards gewohnt sind. Die Tagesklinik wirkt wie eine Werkstatt mit Wohnzimmercharakter oder umgekehrt, Café und Klavier, Sitzgelegenheiten draußen an der Reling.

Die Gäste der Adamant kommen freiwillig, heißt es im Film. Etlichen von ihnen ist ihre Krankheit körperlich anzusehen. Sie äußert sich in Gestik und Mimik, in ihrer Motorik und ihrer Art zu sprechen. Der Filmemacher lässt sie erzählen, über ihr Leben, über ihre Schwierigkeiten. So erfährt das Publikum von ihrer Einsamkeit, dass die Auswirkungen der Krankheit schwer in ein gewöhnliches Familienleben passen. Eine Frau schildert, dass sie aufgrund ihrer Krankheit nicht für ihren Sohn sorgen kann. Und dass es gut für ihn ist, in seiner Pflegefamilie. Auch wenn sie ihn einmal im Monat trifft: Die Trennung schmerzt.

Ohne Medikamente kein Gespräch möglich

"Ohne starke Medikamente raste ich aus", sagt ein Mann, und: "Medikamente sind wichtiger als jedes Gespräch. Es heißt immer: Reden hilft. Erst die Behandlung, dann das Gespräch", erklärt er, denn ohne die Medikamente sei ein Gespräch gar nicht möglich. Ein anderer erzählt von den Stimmen, die auf ihn einreden und dass er darüber nicht sprechen dürfe, was sie ihm sagen. Gegenpol zu diesem krankheitsbedingten Getriebensein ist das Leben auf dem Schiff. Es wirkt ruhig wie das Fließen der Seine. Philibert schneidet immer wieder Bilder, die den Fluss, das sanfte Wogen der Wellen und das Schiff zeigen, zwischen die Gespräche und das Innenleben.

Eine Szene des Films 'Auf der Adamant'.
Foto: picture alliance/dpa/Grandfilm | Eine Szene des Films "Auf der Adamant".

Die Gespräche, die Melodien und der Blick aufs Wasser wirken poetisch. Die Patientinnen und Patienten machen die Buchführung. Sie malen und stellen ihre Werke vor. Es wird getanzt und Marmelade gekocht. Einer spielt Klavier und singt ein berührendes Chanson. Ein anderer bringt die Gitarre zum Klingen, andere nähen. Das Personal gibt Anstöße. In ihrem Tun sind die Gäste an Bord frei. Die Mischung aus Struktur und Freiheit scheint ihnen gutzutun.

Schwere psychische Erkrankungen

"Es sind schwere psychische Erkrankungen", sagt Bönsch nach dem Film über die gezeigten Patientinnen und Patienten. Ihn erinnere "Auf der Adamant" an sein erstes Praktikum während seiner Ausbildung auf einer geschlossenen Station, äußerte er im Gespräch mit der Redaktion.

Renate Winter griff die Äußerung einer Patientin im Film auf, für sie sei Gesundheit, zur Behandlung zu gehen, sich austauschen zu können. "Es ist nicht leicht, zu definieren, was Gesundheit ist", erwiderte darauf Bönsch. Die im Film gezeigten Kranken seien eher Vorzeigepatienten. Nach seiner Erfahrung fehle ihnen oft der Zugang zur Behandlung.

Richard Winter erinnerte an die 68er-Bewegung und deren Ansatz, die Psychiatrien abzuschaffen. Bönsch warnte davor, psychische Erkrankungen zu idealisieren, auch wenn es weniger Kunstwerke gäbe ohne Menschen mit bipolarer Störung. (Vereinfacht ausgedrückt bewegen sich diese Menschen zwischen Depression und Manie, Anmerkung der Redaktion).

Ausbau der Ambulanzen und Chance durch Personalmangel?

"Wir denken von den Institutionen, den Einrichtungen her", beschrieb der Ärztliche Direktor die Lage in Deutschland. Das könne Patientinnen und Patienten bevormunden. Besser wäre es, vom Patienten oder der Patientin her zu denken, sagte der Psychiater. Im Film gebe es keinen Streit, bemerkte eine Frau aus dem Publikum. Bönsch führte das darauf zurück, dass sich die Mitarbeitenden so verhielten, dass Aggressionen eher selten aufträten.

Dominikus Bösch, Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses, und Renate Winter vom Stattkino im Gespräch mit dem Publikum im Anschluss an den Film 'Auf der Adamant'.
Foto: Monika Büdel | Dominikus Bösch, Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses, und Renate Winter vom Stattkino im Gespräch mit dem Publikum im Anschluss an den Film "Auf der Adamant".

Susanne Duckstein, die Leiterin der Volkshochschule, fragte den Klinikleiter, ob er denn von einer Einrichtung wie der Adamant träume. Bönsch informierte, dass durch den Ausbau der Ambulanzen in diese Richtung gegangen werde, was ein Mann aus dem Publikum bestätigte.

Der Ärztliche Direktor sieht in diesem Zusammenhang sogar eine Chance durch den Fachkräftemangel. Dass die Entwicklung zu weniger Betten und dafür mehr zu Modellen wie dem Gezeigten gehe. Bislang verhinderten Vorschriften und hohe Qualitätsstandards manche Alternativen. Bönsch spielte damit auf eine Szene im Film an, die zeigte, wie die Patientinnen und Patienten Marmelade kochen. Das Obst hatte ein Supermarkt schon entsorgt, weil es nicht mehr einwandfrei war.

In Deutschland dreimal so viele Betten wie in anderen europäischen Ländern

Noch sei es aber so, dass es in Deutschland einen Automatismus gebe: Ich bin krank, ich gehe in die Klinik. Hierzulande gebe es dreimal so viele Betten, wie in anderen Ländern Europas. Es werde sehr viel kategorisiert unter dem Motto "das ist krank".

Für eine Frau aus den Reihen der Besucherinnen und Besucher ist gesund, wer selbstständig in der Gesellschaft leben kann. Das brachte Bönsch zurück zu seiner Kernfrage: "Was ist krank, was ist behandlungsbedürftig und wie viel wird akzeptiert?"

Dass Krankheit nicht unbedingt einschränkt, nimmt eine Patientin im Film für sich in Anspruch. Sie möchte einen Tanzworkshop für ihre Mitpatientinnen und Mitpatienten anbieten. Bislang hätten sich die anderen nicht genügend darauf eingelassen. Vielleicht, weil sie glaubten, sie sei dafür nicht geeignet, äußert sie ihre Vermutung. Doch sie sei Tänzerin und könne den anderen etwas mitgeben von ihrer Erfahrung.

 
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