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Lohr
Die Lohrer Rothschilds: Schicksal einer jüdischen Familie
NS-Kundgebung auf dem oberen Lohrer Marktplatz 1934, rechts das Rothschildhaus, das Geschäft des jüdischen Kaufmanns Hermann Rothschild, das nach dessen Tod 1932 von seiner Frau Helene weitergeführt wurde. 
Foto: Repro: Stenger | NS-Kundgebung auf dem oberen Lohrer Marktplatz 1934, rechts das Rothschildhaus, das Geschäft des jüdischen Kaufmanns Hermann Rothschild, das nach dessen Tod 1932 von seiner Frau Helene weitergeführt wurde. 
Bert und Eduard Stenger
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:18 Uhr

Am 11. November 1938 berichtete die Lohrer Zeitung: "Vergeltung! Eine Welle der Empörung hat die Nachricht vom Tode des durch jüdische Mörderhand gefallenen Gesandtschaftsrats vom Rath im deutschen Volk ausgelöst, die auch in unserer Stadt Lohr ihren Niederschlag fand. Schon gestern morgen fanden antijüdische Demonstrationen statt, die in Beschädigungen der Lohrer und Wiesenfelder Synagoge ihren Ausdruck fanden. In gleicher Weise wurde auch gegen jüdische Geschäfte vorgegangen."

Damit war natürlich die als "Reichskristallnacht" bekannt gewordene Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 gemeint. Besonders brutal waren SA-Männer gegen das Rothschild-Geschäftshaus am Lohrer oberen Marktplatz vorgegangen. Die Federn der aufgeschlitzten Betten habe der Wind noch tagelang durch die Gassen der Stadt gewirbelt, so die Erinnerung von Zeitzeugen.

Die Geschichte des Hauses

Zur Geschichte des Hauses: 1884 übernahm Emanuel Rothschild das Geschäft von seinem Schwiegervater Isaak Schloßmann. Emanuel Rothschild war das älteste von elf Kindern und stammte aus Grünsfeld/Baden. Er baute das ursprüngliche Lederwarengeschäft nach und nach zu einem Konfektionsgeschäft mit einem reichhaltigen Sortiment aus. Emanuel Rothschild war nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann, sondern auch ein geachteter Lohrer Bürger und Mitglied in verschiedenen Lohrer Vereinen. Später wurde sein Bruder Hermann Rothschild Teilhaber, der das Geschäft nach dem Ausscheiden Emanuel Rothschilds weiterführte.

Die Kinder des Ehepaars Helene und Hermann Rothschild Bruno (geb. 1900), Irma (geb. 1901) und Alwin (geb. 1908) besuchten die Höheren Schulen in Lohr – die Familie zählte im besten Sinne des Wortes zum Lohrer Bildungsbürgertum. Nach dem Tod ihres Mannes 1932 wurde seine Ehefrau Helene Geschäftsinhaberin. Schon im April 1933, also unmittelbar nach der Machtergreifung der Nazis, wurde durch eine Fülle von Anordnungen und Gesetzen auch für die Lohrer Juden das Leben erschwert und nach und nach die wirtschaftliche Existenzgrundlage entzogen.

 Das Ehepaar Helene
und Hermann Rothschild. 
Foto: Repro: Stenger |  Das Ehepaar Helene
und Hermann Rothschild. 

Die meisten der Lohrer Juden erkannten wohl die drohenden Gefahren und wanderten aus, darunter auch Alwin Rothschild, der am 13. Mai 1938 einen Reisepass beantragte, den die Gestapostelle Würzburg am 17. Mai 1938 genehmigte. Er reiste am 18. August 1938 über Frankreich nach Chicago (USA). Ein Jahr früher war Irma (in manchen Schriftstücken auch Irene) Mannheim, geb. Rothschild, nach Amerika ausgewandert.

Das Geschäft wurde in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 von SA-Leuten total demoliert, auch das Wohnmobiliar wurde zerschlagen und auf dem Marktplatz verbrannt. Es sollen auch nach Aussagen älterer Lohrer Plünderungen gegeben haben.

Es war das Ende des renommierten Geschäfts, das 54 Jahre lang das Lohrer Geschäftsleben wie kein anderes bereichert hatte – die zahlreichen und großformatigen Inserate in den Lohrer Zeitungen lassen einen solchen Schluss zu – und es war auch das Ende der Rothschilds in Lohr. Helene Rothschild verließ Lohr am 23. Dezember 1938 nach der Genehmigung der Ausreise, reiste zunächst zu ihren Geburtsort Scheßlitz und wanderte von dort in die USA aus.

Drei Wochen später wurde das Rothschild-Haus von der Stadt übernommen, und am 1. April 1939 eröffnete dann die NSG (Nationalsozialistische Gemeinschaft) "Kraft durch Freude" (KdF) in dem Gebäude ihre Geschäftsstelle.

Jakob Israel Rothschild (in amtlichen Statistiken wurden auch die Vornamen Isak, Isaak oder Isidor verwendet), war der jüngste Bruder von Hermann Rothschild, hatte von 1904 bis 1920 im Geschäft am oberen Marktplatz mitgearbeitet und dann in den angemieteten Geschäftsräumen der alten Post (heute Castellbank) ein eigenes Manufaktur- und Modewaren-Geschäft eröffnet.

Angebliche Steuervergehen

Im Oktober 1938 wurde er wegen angeblicher Steuervergehen verhaftet und im Januar 1939 zu zwei Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Dazu kamen noch eine hohe Geldstrafe sowie die Einziehung der vorhandenen Wertpapiere im Nominalwert von 48.900 Mark. Jakob Israel Rothschild war möglicherweise ein Opfer einer Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 18. Oktober 1936 geworden, nach der jeder Jude verpflichtet war, sein gesamtes Vermögen anzumelden. Nach einer Statistik der Stadt Lohr vom 11. Juli 1940 war Jakob Israel Rothschild 1940 "im Strafgefängnis Nürnberg". Sein weiteres Schicksal ist hier nicht bekannt.

Mit dem Namen Rothschild verbindet sich in Lohr auch die Erinnerung an Bruno Rothschild. Er war der ältere Bruder von Alwin, ursprünglich strenggläubiger Jude, konvertierte zum katholischen Glauben und wurde 1932 zum Priester geweiht, was zu erheblichen Spannungen in der Familie führte. Vor allem sein Vater litt sehr unter dem Glaubenswechsel seines Sohnes.

In der Bildmitte das Geschäft des Jakob Israel Rothschild, Bruder von Hermann Rothschild. Das Foto entstand um das Jahr 1935.
Foto: Repro: Stenger | In der Bildmitte das Geschäft des Jakob Israel Rothschild, Bruder von Hermann Rothschild. Das Foto entstand um das Jahr 1935.

Am 21. Dezember 1932 starb Hermann Rothschild infolge einer Herzerkrankung. Bruno reiste sofort nach Lohr, um an der Beerdigung teilzunehmen und hielt am frühen Morgen des Heiligen Abends zum Gedenken an den verstorbenen Vater eine Messe in Lohr. Anschließend reiste er per Zug nach Konnersreuth, wo er die Christmette halten sollte. Beim Umsteigen im Nürnberger Bahnhof erlitt er einen Herzanfall und starb wenig später. Bereits kurze Zeit danach begann sich ein Gerücht auszubreiten, der junge Priester sei von den Juden umgebracht worden. Das nationalsozialistische Hetzblatt "Der Stürmer" griff dieses Gerücht auf und machte daraus in seiner zweiten Januarausgabe 1933 eine Titelblattgeschichte mit der Überschrift "Der tote Kaplan".

Die NS-Journalisten berichteten ausführlich über den Lebenslauf Bruno Rothschilds, angereichert mit den beim Stürmer üblichen antisemitischen Attacken ("ein Fremdrassiger, der Judenbube" usw.) und kamen zu dem Schluss: "Nach dem Talmud-Schulchan aruch war er (Bruno Rothschild) dem Tod verfallen", weil er katholischer Priester geworden sei. Dass der Kaplan schwer herzleidend war (wie sein Vater) und deswegen im Herbst 1932 einen längeren Kuraufenthalt hatte antreten müssen, verschwieg der Stürmer.

Für 1988 planten die Lohrer Mitglieder des Geburtsjahrgangs 1908 ein Treffen der 80-Jährigen, hierzu luden sie auch Alvin (ursprünglich Alwin, auch Albin) Rothschild ein. Es entstand schon im Vorfeld (1987) ein umfangreicher Briefwechsel, in dem Alvin über seine Zeit in Lohr (vor allem von den Jahren im Dritten Reich) berichtete: "Als ich Deutschland verlassen mußte, gab ich einer Gesellschaft unsere Außenstände, welche ungefähr 150.000 Mark waren, an. Als der Krieg vorbei war, bekamen meine Mutter und ich vielleicht 3000 Mark. Viele haben vergessen, was wir für sie getan haben. Die Wiedergutmachung war fast gar nichts. Wir hatten doch keine Bücher mitgenommen, um beweisen zu können, was unser Geschäft wert war."

Und in einem anderen Brief im gleichen Jahr schrieb Alvin: "Von meinen Blutsverwandten sind ungefähr 12 Personen ermordet worden. (...) Ich hoffe und wünschte meinem Bruder (Bruno Rothschild), daß er glücklich war in seinem kurzen Leben (als katholischer Priester), er war immer mein wundervoller Bruder, seine neue Religion hat uns nicht verändert. (...) Dein früherer Nachbar Franz M. war ein hochanständiger Mensch, so war auch seine Familie, er hatte immer ein paar freundliche Worte, wo ich isoliert war."

"Man muß vergeben"

1991 schrieb Alvin Rothschild an den Leiter des Lohrer Schulmuseums, Eduard Stenger, anlässlich einer Sonderausstellung im Lohrer Schulmuseum über das Schicksal der Lohrer Juden: "An dem berühmten 9. Nov. hat man unser Warenlager (Hs.Nr. 175, neben dem Rathaus) auf den Marktplatz geworfen, meine Mutter und meine Nichte 12 Jahre alt, hat man in ein Zimmer gesperrt (...) es ist furchtbar, wenn man menschlich denken kann und weniger als ein Tier war (...) man muß vergeben, aber man kann nicht vergessen."

Die Lohrer Jugendwehr im 1. Weltkrieg, 1914 gegründete freiwillige vormilitärische Ausbildung für Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren. Bruno Rothschild war dabei (vorne rechts außen sitzend mit Trommel und heller Jacke). 
Foto: Repro: Stenger | Die Lohrer Jugendwehr im 1. Weltkrieg, 1914 gegründete freiwillige vormilitärische Ausbildung für Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren.

Die erwähnten Briefe sind im Archiv des Lohrer Schulmuseums. Beim Lesen der Briefe fällt auf, dass sich Alvin auch nach 50 Jahren noch sehr gut an seine Schulfreunde und deren Namen, an Sportveranstaltungen, an denen er teilnahm ("...wurde mit einem Lorbeerkranz beglückt, das waren noch Zeiten, wo ich als gleichwertiger Mensch anerkannt war.") und an die Dörfer und Gasthäuser erinnerte, auch daran, dass er die Ortschaft Thüngen im Dritten Reich nicht mehr betreten durfte, "der Leiter der (dortigen) NSDAP hat mir über 200 Mark geschuldet!" Über die Lohrer SA-Männer, die sein Elternhaus verwüstet hatten, deren Namen ihm sicherlich auch bekannt waren, verlor er kein Wort.

In den Briefen wird auch deutlich, wie sehr der alte Mann seine einstige Heimat vermisste, so 1992: "Wenn ich immer Lohr schreibe oder davon spreche, da hat man ein gewisses Gefühl, es wird nicht weggehen, wenn man halt seine Heimat und Freunde aufgeben mußte wegen etwas Unmenschlichem." Und in einem anderen Brief: "Es war halt meine Heimat."

Alvin Rothschild hat das Städtchen, in dem er die ersten 30 Jahre seines Lebens verbracht hatte, nie mehr besucht.

 
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  • Jutta Nöther
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