Besonders brutal waren SA-Männer in der Pogromnacht zum 10. November 1938 gegen das Rothschild-Geschäftshaus am oberen Marktplatz in Lohr vorgegangen. Die Federn der aufgeschlitzten Betten habe der Wind noch tagelang durch die Gassen der Stadt gewirbelt, so die Erinnerung von Zeitzeugen.
Zur Geschichte des Hauses: 1884 übernahm Emanuel Rothschild das Geschäft von seinem Schwiegervater Isaak Schloßmann. Emanuel Rothschild war das älteste von elf Kindern und stammte aus Grünsfeld/Baden. Er baute das ursprüngliche Lederwarengeschäft nach und nach zu einem Konfektionsgeschäft mit einem reichhaltigen Sortiment aus. Emanuel Rothschild war nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann, sondern auch ein geachteter Lohrer Bürger und Mitglied in verschiedenen Lohrer Vereinen. Später wurde sein Bruder Hermann Rothschild Teilhaber, der das Geschäft nach dem Ausscheiden Emanuel Rothschilds weiterführte.
Dem Bildungsbürgertum zugehörig
Die Kinder des Ehepaares Helene und Hermann Rothschild – Bruno (geboren 1900), Irma (geboren 1901) und Alwin (geboren 1908) – besuchten die Höheren Schulen in Lohr: Die Familie zählte im besten Sinne des Wortes zum Lohrer Bildungsbürgertum. Nach dem Tod Hermann Rothschilds 1932 wurde seine Ehefrau Helene Geschäftsinhaberin.
Schon im April 1933, also unmittelbar nach der Machtergreifung der Nazis, erschwerte eine Fülle von Anordnungen und Gesetzen das Leben auch für die Lohrer Juden. Nach und nach wurde ihnen die wirtschaftliche Existenzgrundlage entzogen.
Die meisten der Lohrer Juden erkannten wohl die drohenden Gefahren und wanderten aus, darunter auch Alwin Rothschild, der am 13. Mai 1938 einen Reisepass beantragte, den die Gestapostelle Würzburg vier Tage später genehmigte. Er reiste am 18. August 1938 über Frankreich nach Chicago (USA). Ein Jahr früher war Irma (in manchen Schriftstücken auch Irene) Mannheim, geborene Rothschild, nach Amerika ausgewandert.
Geschäft und Wohnung demoliert
Das Geschäft wurde in der Pogromnacht von SA-Leuten total demoliert. Das Wohnmobiliar wurde zerschlagen und auf dem Marktplatz verbrannt. Nach Aussagen älterer Lohrer sollen auch Plünderungen vorgekommen sein.
Es war das Ende des renommierten Geschäftes, das 54 Jahre lang das Lohrer Geschäftsleben wie kein anderes bereichert hatte – die zahlreichen und großformatigen Inserate in den Lohrer Zeitungen lassen einen solchen Schluss zu. Zudem war es auch das Ende der Rothschilds in Lohr. Helene Rothschild verließ Lohr am 23. Dezember 1938 nach der Genehmigung der Ausreise, reiste zunächst zu ihrem Geburtsort Scheßlitz und wanderte von dort in die USA aus.
Drei Wochen später wurde das Rothschild-Haus von der Stadt übernommen, und am 1. April 1939 eröffnete dann die NSG (Nationalsozialistische Gemeinschaft) „Kraft durch Freude“ (KdF) in dem Gebäude ihre Geschäftsstelle.
Angebliches Steuervergehen
Jakob Israel Rothschild (in amtlichen Statistiken wurden auch die Vornamen Isak, Isaak oder Isidor verwendet), der jüngste Bruder von Hermann Rothschild, hatte von 1904 bis 1920 im Geschäft am oberen Marktplatz mitgearbeitet und dann in den angemieteten Geschäftsräumen der alten Post (heute Castellbank) ein eigenes Manufaktur- und Modewaren-Geschäft eröffnet. Im Oktober 1938 wurde er wegen angeblicher Steuervergehen verhaftet und im Januar 1939 zu zwei Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Dazu kam noch eine hohe Geldstrafe sowie die Einziehung der vorhandenen Wertpapiere im Nominalwert von 48.900 Mark. Jakob Israel Rothschild war möglicherweise ein Opfer einer Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 18. Oktober 1936 geworden, wonach jeder Jude verpflichtet war, sein gesamtes Vermögen anzumelden.
Nach einer Statistik der Stadt Lohr vom 11. Juli 1940 war Jakob Israel Rothschild 1940 „im Strafgefängnis Nürnberg“. Sein weiteres Schicksal ist hier nicht bekannt.
Der Jude, der katholischer Priester wurde
Mit dem Namen Rothschild verbindet sich in Lohr auch die Erinnerung an Bruno Rothschild. Der ältere Bruder von Alwin war ursprünglich strenggläubiger Jude, konvertierte aber zum katholischen Glauben und wurde 1932 zum Priester geweiht – was zu erheblichen Spannungen in der Familie führte. Vor allem sein Vater litt sehr unter dem Glaubenswechsel seines Sohnes.
Am 21. Dezember 1932 starb Hermann Rothschild infolge einer Herzerkrankung. Bruno reiste sofort nach Lohr, um an der Beerdigung teilzunehmen und hielt am frühen Morgen des Heiligen Abends zum Gedenken an den verstorbenen Vater eine Messe. Anschließend reiste er per Zug nach Konnersreuth, wo er die Christmette halten sollte. Beim Umsteigen im Nürnberger Bahnhof erlitt er einen Herzanfall und starb wenig später.
Propaganda nutzt den Todesfall
Bereits kurze Zeit danach begann sich ein Gerücht auszubreiten, der junge Priester sei von den Juden umgebracht worden. Das nationalsozialistische Hetzblatt „Der Stürmer“ griff dieses Gerücht auf und machte daraus in seiner zweiten Januarausgabe 1933 eine Titelblattgeschichte mit der Überschrift „Der tote Kaplan“. Die NS-Journalisten berichteten ausführlich über den Lebenslauf Bruno Rothschilds, angereichert mit den beim „Stürmer“ üblichen antisemitischen Attacken („ein Fremdrassiger, der Judenbube“ usw.) und kamen zu dem Schluss: „Nach dem Talmud-Schulchan aruch war er (Bruno Rothschild ) dem Tod verfallen“, weil er katholischer Priester geworden sei.
Dass der Kaplan schwer herzleidend war (wie sein Vater) und deswegen im Herbst 1932 einen längeren Kuraufenthalt hatte antreten müssen, verschwieg „Der Stürmer“.