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LOHR
Die Heimat im Herzen bewahrt
Von unserer Mitarbeiterin Rita Gress
 |  aktualisiert: 07.01.2016 15:11 Uhr

„Der Pass hat keine Bedeutung, meine Heimat trage ich im Herzen“, sagt Janja Deliæ. Ihre Heimat ist Bosnien, das seit dem 1. März 1992 von Jugoslawien unabhängige Land im nördlichen Teil des Bundesstaates Bosnien-Herzegowina. 1969 kam die heute 65-Jährige nach Deutschland, in Lohr lebt sie seit 1973. „Hier werde ich bleiben. Hier kamen meine Kinder Franjo und Sanije und meine Enkel Alexander und Katharina zur Welt; hier ist mein Zuhause.“

Janja Deliæ wurde 1950 als ältestes von zehn Kindern bosnischer Eltern in einem Dorf nahe der rund 120 000 Einwohner zählenden Stadt Tuzla geboren. Sie wuchs mit ihren Geschwistern auf dem elterlichen Bauernhof auf. Nach der Schule machte sie eine Lehre zur Schneiderin. „Da der Betrieb lediglich ausbildete und es in der Umgebung kaum Arbeitsplätze gab, bewarb ich mich beim heimischen Arbeitsamt um eine Stelle in Deutschland.“ Die erforderlichen Papiere und eine Stellenzusage von AEG Telefunken in Westberlin seien innerhalb 30 Tagen bei ihr eingegangen.

Ab nach Berlin

Ohne ein Wort Deutsch zu können, stieg sie mit 18 Jahren in Belgrad in den Flieger nach Berlin. „Das war der erste Flug in meinem Leben und in einer Großstadt war ich zuvor noch nie.“ Sie sei jung und neugierig gewesen, gleichzeitig habe sie Angst gehabt vor dem, was auf sie zukomme. Dann die Erleichterung: In dem Berliner Unternehmen gab es viele Mitarbeiter aus ihrer Stadt: 130 Frauen und drei Männer, alle zwischen 18 und 20 Jahre alt. Mit einer Kollegin teilte sie sich ein Zimmer. Zum Einkaufen ging sie in Tante-Emma-Läden in Reineckendorf. „Dort konnte ich auf die Waren deuten oder sie in meinem Schul-Russisch benennen.“ Die Hilfsbereitschaft der Verkäuferinnen habe sie sehr gerührt. „Sie konnten auch russisch und schrieben die Namen der Waren in kyrillischer Schrift und auf Deutsch auf die braunen Papiertüten. So lernte ich ein deutsches Wort nach dem anderen.“

1973 begegnete sie einem früheren Nachbarn, der bei Rexroth beschäftigt war. Er wurde ihr Partner und Vater ihres heute 42-jährigen Sohnes Franjo. Auch Janja Deliæ bewarb sich um eine Stelle in Lohr und wurde bei der Firma Winkler für Früh-, Spät- und Nachtschicht eingestellt. „Montags hatte ich noch Akkord gearbeitet, am Dienstag brachte ich meinen Sohn zur Welt,“ beschreibt sie eine nicht einfache Zeit.

Bei Winkler blieb sie bis zur vorzeitigen Rente aus gesundheitlichen Gründen. „Von der Arbeit hatte ich einen schweren Bandscheibenschaden davongetragen.“ Von ihrem Partner hatte sich die mittlerweile alleinerziehende Mutter getrennt. Mit 28 lernte sie einen in Neuhütten lebenden Türken kennen und ging eine zweite Partnerschaft ein. „Ich lernte Türkisch; das fiel mir nicht schwer. Viele Worte ähneln denen meiner Muttersprache.“

Am 17. Oktober 1980, als ihre Tochter Sanije geboren wurde, kam ein Telegramm aus der Heimat: Ihre Mutter war zur gleichen Stunde an Herzversagen gestorben. „Für mich ging die Welt unter“, sagt Janja Deliæ. Nach 15 Jahren Partnerschaft musste sie noch einmal auf eigenen Beinen stehen. Der Vater ihrer achtjährigen Tochter erlag einem Hirntumor. „Um meine Kinder durchzubringen, putzte ich nebenbei bei Rexroth.“ Die Kinder gingen in Sendelbach in die Grundschule und anschließend in die Hauptschule im Nägelsee-Zentrum. Beiden hat die Mutter Kroatisch beigebracht. Einmal pro Woche sei auch eine kroatische Lehrerin in die Schule gekommen und habe Schüler in der Landessprache unterrichtet.

Musik gegen das Heimweh

Heimweh? „Manchmal“, sagt sie. „Dann höre ich Musik aus meiner Heimat.“ Sie macht die Dinge mit sich selbst aus. Dazu gehören auch die Sorgen um ihre Tochter und Enkelin. Der Vater der zwölfjährigen Katharina starb an Krebs, noch bevor sein Kind auf der Welt war. „In der Familie halten wir eng zusammen“, sagt Janja Deliæ. Ihre Verwandten sind über Deutschland, Österreich, Bosnien, Kroatien und Kanada verstreut.

„Wir Geschwister treffen uns alle zwei Jahre in unserem Elternhaus.“ Drei ihrer Brüder sind nicht mehr am Leben. Zwei fielen im Bosnienkrieg (1992 bis 1995), einer ertrank in der Donau bei Wien.

Janja Deliæ liebt Handarbeit und den Kontakt zu Menschen. Die Nationalität spiele keine Rolle. „Nur Ehrlichkeit ist mir wichtig.“ Seit Jahren ist sie ehrenamtlich tätig bei Intakt in Lohr, ebenso als Schülerlotsin und Begleiterin des Festwochen-Expresses. Sie tanzt gern; zweimal im Jahr besucht sie in Stuttgart, Frankfurt und Offenbach Veranstaltungen, um Tänze zu erleben, die sie als junge Frau selbst zuhause getanzt hat.

 
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