Es begann mit einem Loch in der Dämmschicht einer Wand. Es sieht ganz so aus, als säße dort ein Vogel mit fliederfarbenem Gefieder.
Eines Tages, es soll der 12. Februar gewesen sein, saß dieser Vogel plötzlich in der Schusslinie: Ein Kind, wie es scheint im Wickelrock, mit angelegtem Gewehr zielt just auf diesen Vogel in der Wand. Zufall oder Absicht? Das weiß wohl nur derjenige, der dieses Graffito ganz in Schwarz an die Ziegelwand gesprüht hat.
Alsbald war es Gesprächsstoff in der Facebook-Gruppe „Ob Mopper oder Schnüdel ...“ und etlichen ihrer 1250 Mitglieder: „Oh, wie cool“, schreibt einer. „Aber ich wette, dass es in Lohr als Ärgernis gesehen und demnächst auch wieder entfernt wird ...“ Dass auf den Vogel geschossen wird, fand eine Nutzerin „nicht so toll“. „Kann man Kunst nicht mal Kunst sein lassen?“, stellt Christian Schneider als rhetorische Frage in der Raum. „Die achso karge Wand wurde verschönert und sieht nicht mehr so langweilig aus.“
Schlechtes Gefühl in einer bedrohlichen Welt
„Kunst ist toll. Aber ein Kind mit Gewehr?“ zeigt sich ein Mitglied mit den Avatar Kyra Espunkt befremdet. Die Schattenfigur wirke bedrohlich, das Bild vermittle ein schlechtes Gefühl in einer eh schon bedrohlichen Welt. „Soll es wach rütteln oder verharmlosen?“
Das berühmte Graffito von Valentin Lude– das Zwerge mit dem Messer vor sich hertreibende Horrorwittchen – wird zitiert, erweitert die Diskussion. „Reale Waffen zu verabscheuen, das kann ich nachvollziehen. Gezeichnete Waffen gleich an den Pranger zu stellen?“, relativiert Schneider. Den Gedanken weitergesponnen müsste man auch Zeichentrickgewalt von Sylvester & Tweety oder Bugs Bunny ablehnen.
In Grimms Märchen werden auch Frösche an die Wand geklatscht, Zehen abgehackt, Hexen verbrannt und hübsche Prinzessinnen aus Eifersucht vergiftet, pflichtet Angelika H. bei. „Da erscheint mir die Figur mit Gewehr, die auf ein Loch in der Mauer zielt, das witzigerweise und mit Phantasie betrachtet aussieht wie ein Vogel, eher harmlos.“
„Ich finde Kunst darf auch mal provozieren und dadurch zum Nachdenken und zur Diskussion anregen. Was hier, wie man sieht, gelungen ist“, meint Heike L.
„Hier wurde auf künstlerische und wie ich finde sehr schöne Weise auf diese Missstände hingewiesen“, ist auch für Markus Graf klar. Die Diskussion um das Graffito zeige, dass das Thema Kindersoldaten, das hier „prima dargelegt“ werde, „noch nicht in jedes kleine Zimmer hinter den sieben Bergen vorgedrungen ist.“
Kunst sei auch ein Medium, Leute zum Nachdenken zu bewegen, vertritt Steffi Höfling. Das Motiv könne gesellschaftliche Umstände anprangern.
Genau so scheint es zu sein: Matthias Mehling hat erfahren, dass das Datum, an dem der Sprayer aktiv war, offenbar kein Zufall war: Der 12. Februar ist Internationaler Tag gegen den Einsatz von Kindersoldaten, seit 2002 das Fakultativprotokoll über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten zur UN-Kinderrechtskonvention von 92 Staaten unterzeichnet wurde.
Das Kunstwerk an der Brauereimauer wandelt sich
Inzwischen aber hat sich einiges getan an dieser Mauer der ehemaligen Lohrer Brauerei: Es begann schon zwei Tage später, am Valentinstag, da verzierte ein Unbekannter die Silhouette mit Herzchen und Blümchen – was wiederum Kritik von Frank S. provozierte: „Schade, dass es auch Kunstbanausen gibt“, bedauert er. „Kunst hin oder her – aber das muss nicht sein, ein solches künstlerisch Objekt zu verunstalten.“ Die an die Wand geklebten Blümchen sind wieder abgefallen. Doch es ging weiter: Es dauerte nicht lange, da durchkreuzte ein großes, rotes X den Gewehrlauf. Vier große, schwarze Kreuze kamen hinzu, die wiederum nicht lange unverändert blieben: Mit bunten Wachsmalstiften verwandelten unbekannte Kinderhände die Kreuze in Flugdrachen, wie sie Kinder im Herbst steigen lassen.
Ohne Zweifel: Diese Wand ist die in Lohr derzeit am meisten diskutierte Ecke. Dabei ist sie ein Resultat beengter Zufahrt: Bis vor einigen Jahren nämlich war diese Gebäude-Ecke rund.
Zahlreiche Lackspuren zeigten, dass immer wieder Lastwagen beim Abbiegen an ihr entlang geschrammt waren. Deshalb war ein Stück des Bogens abgetragen und begradigt worden. Doch von Dauer wird dieses dynamische Kunstwerk ohnedies nicht sein: Nach dem Verkauf des Areals an die KRE Group Bamberg wird die alte Brauerei in nicht allzufernen Zukunft abgerissen und weicht einem Wohn- und Geschäftekomplex.
Der Denkanstoß aber wird womöglich weiter leben. „Kunst muss nicht jedem gefallen“, bringt es Sabine Wagner auf den Punkt und meint: „Ist doch super: da hat Kunst Kommunikation ausgelöst.“