Überall liegen Blätter auf dem Boden, Fotografien berühmter Literaten lehnen an der Wand und mittendrin steht ein aufstrebender Verleger namens Kasimir Kranz. „Vergessen – literarische Lethe“ heißt das Ein-Mann-Theaterstück, das die Aula der FOS/BOS Marktheidenfeld an diesem Tag zum Leben erweckt. In 70 Minuten führt Kranz, gespielt von Andreas Posthoff, durch die Jahre 1910 bis 1933. Auf seinem Weg durch die Jahrzehnte begegnet er den großen Schriftstellern dieser Zeit und geht sogar mit ihnen auf Reisen.
Ihm direkt gegenüber sitzen rund 70 Zuschauer, die er mit in das Berlin, Zürich und Ascona vor rund einhundert Jahren nimmt. Geschichtliche Ereignisse wie der erste Weltkrieg oder die Bücherverbrennung prägen sein Leben genauso wie die Beziehung zu den verschiedenen Autoren des Expressionismus.
Zurück in der Heimat
Geschrieben hat das Stück Tobias Frühauf. Gemeinsam mit seinem Cousin Philipp Wolpert, verantwortlich für die Regie, hat er im vergangenen Jahr das Theaterlabel Tacheles & Tarantismus gegründet. Seit dem 9. Oktober 2017 sind die beiden mit ihrem Schauspiel auf Tour.
Der Besuch an der Marktheidenfelder FOS/BOS war vor allem für Frühauf etwas Besonderes. 2015 hat er dort selbst das Abitur gemacht. Aufgewachsen sind die Cousins, die gleichzeitig auch beste Freunde sind, außerdem im Nachbarort Karbach. Ein Heimspiel also.
Interaktive Deutschstunde
Konzipiert wurde das Theaterstück speziell für die gymnasiale Oberstufe. Für Frühaufs Geschmack, der selbst seit seiner Schulzeit ein großer Fan des Expressionismus ist, kam die Epoche im Unterricht leider zu kurz: „Der Idealismus dieser Zeit ist sehr faszinierend und so habe ich anschließend selbst weiter recherchiert.“ Geboren war die Idee der „Interaktiven Deutschstunde“, wie auch der Untertitel des Stücks lautet.
Im Anschluss an das Lehrplanergänzende Schauspiel, das sonst direkt im Klassenzimmer stattfindet, können die Zuschauer 25 Minuten lang Fragen an das Duo und den Schauspieler stellen. Dabei interessiert die Schüler und Lehrer nicht nur das eben erst vermittelte Wissen über die Literaturepoche, auch der 24-jährige Frühauf und der 21-jährige Wolpert fallen durch ihr junges Alter auf. „Macht ihr das nebenbei oder hauptberuflich“, fragt eine Schülerin geradeheraus. „Hauptberuflich“, lautet die Antwort, „und das seit 2017.“
Das Ein-Mann-Stück ist jedoch nicht die einzige Produktion des Theaterlabels. Im Sommer 2018 werden Frühauf und Wolpert mit den ersten Marbacher Theaterfestspielen ihr Debüt als jüngste Intendanten Deutschlands geben. Vier Wochen lang werden sowohl internationale Schauspieler als auch Newcomer auf den Bühnen der Schillerstadt stehen. Für die Veranstaltung liefert Tacheles & Tarantismus vier eigene Produktionen.
Dabei machte Tobias Frühauf nach dem Realschulabschluss zuerst eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Für Theater interessierte er sich allerdings schon früh. „Mit 14 habe ich mein erstes Musical geschrieben“, erinnert er sich heute. Vor kurzem mussten sich die beiden jungen Männer dann entscheiden: Studium oder Selbstständigkeit? Die Wahl fiel ihnen leicht: „Wir wollten frei arbeiten“, sagt Frühauf.
Philipp Wolpert hingegen wollte schon immer hauptberuflich im Bereich Theater arbeiten. Seine ersten Erfahrungen machte er ebenfalls im Alter von 14 Jahren, als er sein erstes Werk „Jonas auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ inszenierte. Es folgten Regieassistenzen in verschiedenen städtischen Theaterhäusern.
Theater im Nachtclub
Mit ihrem Stück „Vergessen – literarische Lethe“ wollen die beiden vor allem eines: Junge Menschen ansprechen und zur Eigenrecherche animieren. „Werdet aktiv, denn nichts tun ist einfach. Setzt eure Visionen um“, gibt Philipp Wolpert den Schülern, inspiriert von den tatkräftigen Idealisten des Expressionismus, mit auf den Weg.
Denn genau das tun auch Frühauf und Wolpert selbst. „Mit unseren Stücken wollen wir die Konventionen brechen“, sagt der 24-jährige Dramaturg des Duos, „Wir wollen das Theater auf die ganze Gesellschaft ausbreiten und möglichst viele Menschen aus verschiedenen Schichten erreichen.“ Ihr Weg zum Ziel: Experimentelles wagen.
Die neueste Idee der beiden ist ein Schauspiel, aufgeführt in einem Elektroclub in Stuttgart. „Es gibt keine Stühle, man ist mittendrin“, erklärt Frühauf das Konzept. Gespielt wird sein Erstlingswerk aus dem Jahr 2014. In der Geschichte vermischt sich Fiktionales mit der Realität, bis der Protagonist sich am Ende selbst findet. Dazu legt ein DJ Elektromusik auf. Zwischen den Szenen darf dann gerne getanzt werden.
Lob vom Schauspieler
Schauspieler Andreas Posthoff steht voll und ganz hinter dem Ein-Mann-Theaterstück fürs Klassenzimmer. Selbst von der Thematik angetan, versucht auch er die Schüler nach der Vorstellung weiter für die Epoche des Expressionismus zu begeistern: „Wir versuchen euch zu entzünden“, sagt er leidenschaftlich, „brennen müsst ihr dann aber selbst.“
1961 geboren, liegt ein großer Altersunterschied zwischen ihm und den beiden Cousins. Das Alter spielt für ihn jedoch keine Rolle: „Ich finde es spannend, was die jungen Kollegen da wagen“, sagt er. In Kontakt gekommen mit Tacheles & Tarantismus war er über Regisseur Wolpert, der als Assistent an einer Produktion beteiligt war, in der Posthoff mitwirkte.