Ist er da oder ist er es nicht? Diese Frage geisterte jahrelang durch den Spessart, wenn es um den Luchs ging. Mal mehr oder mal weniger nachdrücklich und überzeugend waren die Erzählungen, die in Kreisen von Waldläufern, Jägern und Forstleuten zu Begegnungen mit der ausgesprochen heimlich lebenden Wildkatze die Runde machten.
Doch jetzt herrscht Gewissheit: Der im 19. Jahrhundert in Bayern ausgerottete Luchs hat bei seiner vor Jahrzehnten gestarteten Rückkehr auf leisen Pfoten den Spessart erreicht. In den Hängen des Maintals zwischen Neuendorf und Sackenbach ist er im Staatswald an einem Vormittag vor die Linse einer Fotofalle gelaufen. Das Bild zeigt zwar nur ein Hinterteil. Doch die Statur, der markante Stummelschwanz und die typische Fellzeichnung machen eine Verwechslung unmöglich.
„Wir freuen uns“, sagt Adolf Herr, der Leiter des auch für die Staatswälder um Neuendorf und Sackenbach zuständigen Forstbetriebes Hammelburg, über die Rückkehr des lange verschwundenen Waldbewohners. Eine Überraschung sei diese für ihn und sein Team freilich nicht. Der Sprung des Luchses in den Spessart hatte sich angekündigt.
Ende November 2015 konnte ein Jäger bei einer Drückjagd am Totnansberg (Lkr. Bad Kissingen) einen Luchs fotografieren. Zwischen Ruppertshütten und der Bayerischen Schanz beobachtete ein pensionierter Förster im Dezember einen Luchs neben der Straße. Im Neuwirtshauser Forst geriet ein den Waldweg querender Luchs fast unter die Räder. Und dann: Zwischen Hammelburg und Bad Brückenau bediente sich im November ein Luchs unweit von Schönderling aus einem mitten im Wald gelegenen Damwildgehege. Drei Tiere riss er innerhalb weniger Tage.
Mit der Untersuchung des Falles war damals Christian Müller-Wirth befasst. Der Förster ist einer von rund 40 ehrenamtlichen Mitarbeitern, die in Unterfranken dem „Netzwerk große Beutegreifer“ angehören. Ihre Aufgabe ist es, vor Ort Ansprechpartner für alle Fragen rund um den Luchs zu sein, Daten zu sammeln und mögliche Luchsrisse zu untersuchen. „Ziel ist es, Betroffene und die Bevölkerung mitzunehmen“, sagt Müller-Wirth.
Die von ihm eingeleitete genetische Untersuchung der am Wildgehege in Schönderling gefundenen Haarspuren brachte ein eindeutiges Ergebnis: Es war ein Luchs. Zweifel bestanden schon zuvor kaum mehr. Der Gehegebesitzer hatte das Tier bei einem Beutezug auf frischer Tat ertappt, woraufhin die Katze mit einem Sprung über den Zaun geflüchtet war. Lärm, Rauch und ein nachgebesserter Zaun haben den Luchs seither von dem Gehege ferngehalten.
Für solche Fälle wie in Schönderling existiert ein Entschädigungsfonds. Zwar gibt es keine gesetzliche Verpflichtung zum Ausgleich der von Luchsen verursachten Schäden, doch das Begleichen finanzieller Einbußen von Tierhaltern soll Vorbehalte gegenüber dem tierischen Heimkehrer mildern. Gespeist wird der Fonds zu 80 Prozent vom Bayerischen Umweltministerium. Den Rest zahlen verschiedene Naturschutzorganisationen.
Die Summe, die der Fonds bayernweit auszahlt, liegt laut Herr bei nur wenigen tausend Euro. Denn zum einen ist der Luchs nach wir vor ausgesprochen selten. Zum anderen ist er laut Müller-Wirth nur für rund ein Viertel der Fälle zuständig, die als potenzielle Luchsrisse gemeldet werden.
Auch im Staatswald bei Bad Brückenau sei ein solcher Luchsriss gefunden worden: ein Reh. Typisches Merkmal für den Luchs ist, dass er am hinteren Ende der Beutetiere zu fressen beginnt, an den Schenkeln. Füchse oder wildernde Hunde hingegen machen sich zunächst über die Innereien her, erklärt Müller-Wirth.
In den heimischen Wäldern gibt es laut Forstbetriebsleiter Herr ausreichend Wild für den Luchs: „Der Tisch ist reich gedeckt.“ Ein Luchs erbeute pro Woche etwa ein Reh, im Spessart womöglich stattdessen auch eines der reichlich vorhandenen Wildschweine.
Eine gewichtige Konkurrenz für die Jäger sei der Luchs nicht, so Herr weiter. Angesichts seines riesigen Streifgebietes erbeute er pro 100 Hektar und Jahr etwa ein halbes Reh. Im Staatswald würden jedoch auf gleicher Fläche vier bis fünf Rehe pro Jahr erbeutet. Es könne höchstens sein, dass die Anwesenheit des Luchses auf Dauer die Jagd etwas schwieriger mache. Denn in Gebieten, in denen der Luchs jagt, verhalten sich seine Beutetiere vorsichtiger, was auch Jäger zu spüren bekommen könnten. Herr rechnet dennoch nicht damit, dass es in der Jägerschaft größere Vorbehalte gegenüber dem Luchs gibt. Zwar sei aus Gebieten wie dem Bayerischen Wald bekannt, dass dort immer wieder Luchse illegal getötet würden. In hiesigen Gefilden seien die Jäger jedoch aufgeschlossener, so Herrs Einschätzung. „Viele freuen sich womöglich über die Bereicherung.“
Man könne jedenfalls davon ausgehen, dass es gegenüber dem Luchs deutlich weniger Vorbehalte gebe als beispielsweise gegenüber dem Wolf. Ein solcher wurde bekanntlich 2015 im Nordspessart auf der Autobahn überfahren. Auch aus der Rhön gebe es immer wieder vage Hinweise auf die Rückkehr des Wolfes.
Woher der Luchs den Weg in den Spessart gefunden hat, ist indes noch unklar. Im Harz ebenso wie im Bayerischen und im Pfälzer Wald gibt es Vorkommen. Spessart und Rhön könnten ein Anfang der Vernetzung der isolierten Populationen sein.
Nach ersten Begegnungen, das gesteht Herr, keimte der Verdacht, das es sich bei den in Rhön und Spessart gesichteten Luchsen um illegal ausgewilderte Tiere handeln könnte. Grund: Sie ergriffen beim Anblick eines Menschen nicht sofort die Flucht, sondern verharrten zunächst bewegungslos. Von Luchsexperten habe man mittlerweile jedoch erfahren, dass dieses Verhalten typisch sei. „Die vertrauen voll auf ihre Tarnung“, sagt Herr.
Wie viele Luchse aktuell in Spessart und Rhön leben, ist völlig unklar. Da das Pinselohr gerade in neuen Lebensräumen große Strecken zurücklegt, könnte es sich bei allen Beobachtungen sogar nur um ein einziges Tier handeln. Bislang gibt es auch keinerlei Hinweise, dass es Luchsnachwuchs gibt.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Wanderer oder sonstige Waldbesucher einen Luchs zu Gesicht bekommen, sei ausgesprochen gering, so Herr. Und was tun, wenn doch? Der Forstmann gibt folgenden Rat: „Stehenbleiben und den Moment genießen. Er wird sich so schnell nicht wiederholen.“
Der Luchs
In Bayern leben nach aktuellen Schätzungen nur etwa 20 bis 40 Luchse, wobei es lediglich im Bayerischen Wald eine seit Jahren wirklich etablierte Population gibt. Vor rund 150 Jahren war der Luchs ausgerottet worden, da er als Nahrungskonkurrent und blutrünstig verschrien war. Auch heute setzt Wilderei den strengt geschützten Tieren zu. Während es in Deutschland nur inselartige Luchsvorkommen gibt, ist die Katze in Skandinavien oder im Bereich des Karpatenbogens flächig verbreitet.
Der Pirsch- und Lauerjäger hat eine Schulterhöhe von 50 bis 70 Zentimetern und wiegt um die 20 Kilo. Kennzeichen sind neben dem gefleckten Fell und dem Stummelschwanz der Backenbart und die Pinselohren. In freier Wildbahn werden Luchse acht bis 15 Jahre alt. Die Katze gebiert im Mai/Juni ein bis fünf, durchschnittlich zwei Junge, wobei die Nachwuchssterblichkeit bei 75 Prozent liegt.
Die Hauptnahrung besteht aus Rehen, wobei auch andere Waldbewohner von der Maus bis zum Rotwildkalb zum potenziellen Beutespektrum gehören. Der Luchs ist auf deckungsreiche Wälder angewiesen. Nur dort kann er sich an Beute anschleichen. Luchse sind hauptsächlich in der Dämmerung und nachts unterwegs. Ihre Streifgebiete sind zwischen 50 und 400 Quadratkilometer groß.
Für den Rückkehrer wurde in Bayern ein Managementplan entwickelt. Ziele sind das Bestandsmonitoring, die Öffentlichkeitsarbeit und die Regulierung der Schadensbegleichung. Insgesamt sollen Akzeptanz und Toleranz für den Luchs geschaffen werden. Text: jun