Kein Datum hat den Landkreis Main-Spessart so nachhaltig erschüttert wie der 13. Februar 1973. An jenem Dienstag erhob der Ministerrat in München wider Erwarten Karlstadt zur Kreisstadt. Die Lohrer waren fassungslos, denn mit ihrer prosperierenden Wirtschaft und 10 000 Einwohnern mehr als die Zementstädter hatten sie keinen Zweifel, dass Lohr der Kreissitz des am 1. Juli 1972 gegründeten neuen Landkreises Mittelmain (später Main-Spessart) sein werde. Und nun der Schock.
Es brodelte gewaltig – vor allem in der CSU in Lohr. Schon Stunden nach der Kreissitz-Verkündung starteten politische Analysten die Seelenschau. Lohr war einwohnerstärkste Stadt und künftiges Mittelzentrum, das mehr Wirkungskraft ausstrahlte als das geplante Unterzentrum Karlstadt. Gegen die Spessart-Stadt sprach, dass sie ein kleineres und sanierungsbedürftiges Landratsamt hatte. Karlstadt dagegen wucherte mit einem großzügigen Bau als Domizil für die aus allen vier „Hauptstädten“ zusammengezogenen Kreisverwaltungen. Die Lohrer hatten dagegen den Bau eines neuen Krankenhauses vorgezogen.
Tumulte in der Stadthalle
Was war schief gelaufen? Das Innenministerium hatte doch den Lohrern die besten Chancen signalisiert, das politische und verwaltungstechnische Zentrum im Landkreis zu werden. Drei Tage nach der Verkündung Karlstadts zur Kreisstadt lud Lohrs Bürgermeister Gerd Graf zu einer Protestversammlung in die Stadthalle, an der auch Landrat Erwin Ammann und Innenstaatssekretär Erich Kiesl (der spätere Münchner OB) teilnahmen. Kiesl blieb eine schlüssige Erklärung schuldig, warum Karlstadt in einem knappen Abstimmungsergebnis im Kabinett den Zuschlag bekam.
Es kam zu tumultartigen Szenen in der überfüllten Stadthalle. Am Rathaus Trauerflor, geschlossene Geschäfte in der Stadt, im Saal Pfeifkonzerte. Beamte hatten den Auftrag, die Fluchtwege durch den Keller für Kiesl und Ammann zu sichern.
Auch die Bevölkerung in und um Lohr zeigte sich fassungslos. So bestiegen 4000 Bürger am 27. Februar 1973 um sieben Uhr früh drei Sonderzüge und zehn Busse, um gemeinsam vor der Staatskanzlei in München gegen die Entscheidung für Karlstadt zu protestieren und eine Auflösung des ihrer Meinung willkürlich gebildeten neuen Landkreises Mittelmain zu fordern.
Als sie den Karlstadter Bahnhof passierten, lasen die Lohrer: „Auch der Weg nach München führt über Karlstadt“. Die Karlstadter Junge Union mit Vorsitzendem Wolfgang Kunz, Gerhard Schmitt, Wolfgang Merklein und Matthias Schmitt hatte sich den Gag ausgedacht. Merkleins Vater Anton, CSU-Mitglied, chauffierte Landrat Erwin Ammann. Der heutige Kunsterzieher am Karlstadter Gymnasium erinnert sich, wie der Vater eines Tages von einer gemeinsamen Dienstfahrt aus Werneck nach Hause kam, wo sich angeblich Ammann mit Regierungsmitgliedern getroffen hatte, und nur sagte: Karlstadt ist es!
„Lohr war vorgesehen als Kreissitz“, sagt heute Wolfgang Merklein. „Karlstadt drohten wichtige Gemeinden wegzubrechen wie Gramschatz, Gauaschach und Opferbaum. Wichtig war für uns, dass sich die Arnsteiner für Karlstadt aussprachen.“ Merklein, später Stadtrat in Karlstadt, lernte schon 1972, wie Politik funktioniert. Als JUler stellte er Stühle in einem Hinterzimmer der Zellinger Turnhalle auf, wo die CSU-Kreisdelegiertenkonferenz Mittelmain tagen sollte. „Da versprach Landrat Ammann den Marktheidenfeldern, dass der Landkreis die Betonstraße zwischen Urspringen und Karbach ausbaut, wenn die Marktheidenfelder für Karlstadt als Kreisstadt votieren.“ Die kürzeste und oft befahrene Verbindung zwischen den beiden Städten wurde nie ausgebaut.
An jenem Dienstag, 27. Februar 1973, bekamen die meisten Lohrer wegen der eisbedeckten Waggonscheiben den Streich der Jungen Union am Karlstadter Bahnhof gar nicht mit, wie die Main-Post schrieb. Im verschneiten München stellten sich die 4000 Bürger aus dem Altlandkreis Lohr mit unzähligen Plakaten „Lohr protestiert“ vor dem Maximilianeum auf, von Polizei und Absperrgittern gesichert.
„Lebensunfähiger Landkreis“
Bürgermeister Gerd Graf überreichte Ministerpräsident Alfons Goppel und Innenminister Bruno Merk 27 000 Unterschriften für den Kreissitz Lohr und betonte: „Wir sind keine Rebellen und Revolutionäre. Wir fühlen uns aber ungerecht behandelt und sind zutiefst enttäuscht.“ Ein Sprecher der Spessart-gemeinden machte deutlich, dass mit Mittelmain ein lebensunfähiger Landkreis zwischen den Oberzentren Würzburg und Aschaffenburg geschaffen wurde – nicht nach sachlichen Kriterien, sondern zugeschneidert auf die Person von Landrat Erwin Ammann.
Ministerpräsident Goppel machte der Lohrer Abordnung klar, dass er die falsche Adresse ihres Protestes sei: „Die Staatsregierung ist nicht mehr Herr des Verfahrens. Der Landtag hat jetzt das Wort.“ Mit der salbungsvollen Aufforderung an Bürgermeister Graf, seine Schäfchen gut nach Hause zu bringen, schraubte der Landesvater die Emotionen weiter hoch, statt sie zu besänftigen.
Die CSU-Lokalgrößen geißelten die Ränkespiele der CSU-Granden wie Landrat Erwin Ammann und MdL Walter Zeißner aus dem Raum Karlstadt. Alfons Ruf, erst CSU-Fraktionsvorsitzender, dann Abtrünniger in der Main-Spessart-Union (MSU), zitierte im Fränkischen Volksblatt am 10. Mai 1973 aus dem Brief vom CSU-Bezirksvorsitzenden Albert Meyer an den CSU-Landesvorsitzenden Franz-Josef Strauß, warum Lohr kein Kreissitz wurde: Landrat Ammann verlangte als langjähriges CSU-Mitglied den Kreissitz Karlstadt. Der Kreistag Mittelmain sprach sich mit 33 zu 28 Stimmen knapp für Karlstadt aus. Von der CSU allein stimmten 24 für Karlstadt und nur zehn für Lohr.
CSU im Raum Lohr verbittert
Welch ein Riss durch die damals stolze und allmächtige Kreis-CSU gegangen war, zeigt die wütende Bewertung Rufs auf, die er aus dem Meyer-Brief und seinen Erfahrung aus der Gebietsreform zog: Die Kreissitzentscheidung sei eine Gefälligkeitsentscheidung für Ammann. Wegen eines Landrats pfeife man auf die berechtigte Forderung von 800 treuen CSU-Mitgliedern. Die CSU stelle sich dar als Mandatsbeschaffungsverein, indem Posten gejagt und Mandarine hofiert werden.
Auch das Lohrer Echo fragte am 6. März 1973, ob nicht Retzbach neuer Kreissitz werden könne, schließlich wohne Ammann dort.
Wolfgang Kunz, der damalige JU-Vorsitzende und Jungdelegierte in Karlstadt, der das Schild auf den Bahnhof mit aufgestellt hatte, sieht im Rückblick Walter Zeißner aus Gambach, jahrzehntelang CSU-Landtagsabgeordneter und geschätzte graue CSU-Eminenz, als Strippenzieher hinter den Kulissen in München: „Zeißner hat die Landwirtschaftslobby aus Oberbayern, von der einige im Landtag saßen, auf Karlstadt eingestimmt.“
Die Lohrer Zeitung spielte im März 1973 auf den Einsatz der CSU-Spitzenpolitiker aus Karlstadt hinter den Kulissen in einem fiktiven Frage- und Antwortspiel an. Frage: Da die geografische Zentralität und Bedürftigkeit bei der Festlegung des Kreissitzes eine wichtige Rolle gespielt haben, hätte da nicht Urspringen Kreissitz werden müssen? Antwort: Im Prinzip ja, doch war die Urspringer Lobby zu klein.
Die Anti-Stimmung gegen den Kabinettsbeschluss heizte in Lohr sogar Kirchenvertreter auf. Stadtpfarrer Karl Haller wütete in einem langen Brief an die Leser der Lohrer Zeitung am 10. Mai über die Machenschaften und Vertrauensbrüche, über „Ammann und Konsorten“. Angewidert von den Ereignissen trete er nach 20 Jahren aus der CSU aus. Und ergänzte: „Sicher wird man sich wortreich und verheißungsvoll bemühen, das Defizit, das durch die Austritte aufrechter, ehrlicher, aber getretener und enttäuschter Mitglieder entsteht, wieder auszugleichen, besonders im Karlstadter Raum durch Werbung billiger, gegen die Satzung verstoßender Ein-DM-Mitglieder, wie sie auch vor der Entscheidung betrieben wurde.“
Die Leserbriefschreiberin Elisabeth F. aus Lohr zeigte fast schon Sehergaben, als sie am 8. März schrieb: „Die Lohrer Hirten haben ihre Schafe gut nach Hause gebracht. Aber der Landes-Oberhirte in München wird sich wundern, wie viele schwarze Schafe wahrscheinlich die Farbe endgültig wechseln und künftig nicht mehr auf CSU-Weiden grasen.“
Main-Spessart-Union gegründet
Der für die CSU politisch bitterste Schritt waren die Auflösung vieler CSU-Ortsverbände in Raum Lohr und die Gründung der Wählervereinigung Main-Spessart-Union (MSU) am 22. Juni 1973, die rund 800 enttäuschte Christsoziale vereinte.
Am 5. April 1973 bestätigte der Landtag die Kreissitzentscheidung des Kabinetts. Die neuen Karlstadter Kreisstädter kommentierten dies auf einem Transparent am Katzenturm, das einer gedeihlichen Nachbarschaft auch nicht dienlich war: „Lieber Zementstädter als Holzköpfe“.
Quellen: Main-Post, Lohrer Echo, Lohrer Zeitung 1972/73.