Einblicke in das Leben und Schicksal jüdischer Menschen in der Region zur Zeit des Zweiten Weltkriegs hat der Marktheidenfelder Kreisheimatpfleger Leonhard Scherg mittels eines Fotobuchs vermittelt. Mehr als 50 Zuhörer kamen am Dienstagabend zu seinem Vortrag in die Alte Turnhalle nach Lohr, wo er über das "Fotobuch der Serry Adler aus Urspringen" referierte. Der Historiker hat dabei viele interessante Erkenntnisse geteilt und einige noch offene Fragen angesprochen.
Zu dem Vortrag eingeladen hatten die Volkshochschule und der Geschichts- und Museumsverein Lohr. Silvia Brey und Meinrad Amrhein freuten sich über den großen Zuspruch. Amrhein stellte seinen Studienkollegen Leonhard Scherg kurz vor und würdigte dessen Arbeit und große Verdienste rund um die Geschichte im Landkreis. Scherg sagte, er habe zwar über die Geschichte des Mittelalters promoviert, sei aber irgendwie bei der Zeitgeschichte hängen geblieben.
Das erwähnte Büchlein ist nur durch etliche Zufälle an seinen Ursprungsort zurückgelangt, wie Scherg erläuterte. Serry Adler wurde 1942 als noch nicht einmal 17-jähriges Mädchen von den Nationalsozialisten deportiert. Auf dem Weg in das Vernichtungslager hat sie ihr Buch entweder verloren oder weggeworfen. Der neunjährige Stanislaw Zdun aus dem polnischen Chelm habe das Büchlein gefunden und aufbewahrt, erzählte Scherg.
Fotobuch landet im Museum
Nach Zduns Tod im Jahr 2012 gaben dessen Nachfahren das Buch an das Nationalmuseum Majdanek. Aufgrund eines Fotos mit Stempel eines Würzburger Fotografen konnte die Herkunft dort grob bestimmt werden. Der Anruf eines Historikers bei Leonhard Scherg erwies sich als Treffer. Denn dieser wusste, dass das Mädchen nicht "Jerry", sondern Serry hieß und aus Urspringen stammte.
Leonhard Scherg zeigte bei seinem Vortrag alle Aufnahmen aus dem Buch. Einige davon waren beschriftet, sodass zumindest ein Teil der Menschen zu identifizieren war. Spannend war gleich das erste Bild, das eine Reihe angetretener Wehrmachtssoldaten zeigt. Dafür gebe es laut Scherg keine schlüssige Erklärung.
Klar zuzuordnen waren Bilder von der Pflegemutter Selma Flörsheimer aus Würzburg, einer Mitschülerin des Mädchens namens Frieda Bergmann, Serrys Cousine Lore Bauer und ihres Cousins Justin Adler. Auch von Lehrer Georg Friess fand sich ein Foto. Justin Adler habe auf dem Rittergut Schniebinchen bei Sommerfeld in Schlesien eine landwirtschaftliche Ausbildung absolviert, erzählte der Historiker. Diese sei zur Vorbereitung für eine spätere Ausreise nach Palästina und das Leben dort gewesen. Eine Ausreise sei bis etwa 1939 möglich gewesen, erklärte Scherg.
Als Kind verschleppt
Lore Bauer wurde als kleines Kind nach Gurs in Frankreich verschleppt und konnte 1942 in die USA emigrieren. Der Marktheidenfelder sagte, dass dies für kleine Kinder, die noch adoptierfähig waren, möglich gewesen sei. Viele Mitschülerinnen, die sich – trotz der Ereignisse der Zeit – auf den Bildern unbeschwert zeigten, konnten dagegen nicht identifiziert werden. Scherg vermisste Fotos der Eltern Serry Adlers sowie Aufnahmen vom Haus oder dem Dorf Urspringen.
Der Referent zeigte Deportationslisten aus dem Jahr 1942. Aus Urspringen standen darauf 42 Personen. "Die mit Abstand größte Zahl aus einem Ort, wenn man von größeren Städten absieht", betonte der Historiker. Er berichtete auch von korrigierten Transportlisten, in denen teilweise Geburtsdaten geändert worden waren. Einige Namen waren mit einem durchgestrichenen "O", andere mit dem Kürzel "p.a." versehen. Die Bedeutung dieser Kürzel kennt Leonhard Scherg nicht. Dieses Rätsel will er noch lösen.
Landjuden "ganz arme Schweine"
Grundsätzlich hätten alle jüdischen Familien auswandern wollen, aber die Urspringer Juden hätten laut Scherg zu lange gewartet. Allerdings beschränkten die USA die Aufnahme damals auf jährlich 28.000 Personen. Die Auswanderer mussten zudem nachweisen, dass sie für sich selbst sorgen können. "Und es stimmt eben nicht, dass alle Juden reich waren", betonte Scherg. Vielmehr hätten Juden einfach früher auf Bildung und akademische Berufe gesetzt. Insbesondere die Juden auf dem Land seien eher "ganz arme Schweine" gewesen.
Am 25. April startete der dritte Transport vom Bahnhof Würzburg Aumühle in die Vernichtungslager. Die letzte Reise für etwa 850 mainfränkische Juden. In sechs Transporten wurden 2050 Menschen deportiert. "Gegen das Vergessen machen wir Veranstaltungen wie diese", sagte Meinrad Amrhein.