
Für die letzten Stunden ihrer Mittelmeer-Kreuzfahrt hatten sie sich noch einmal fein gemacht. Ursula L. und ihre Mutter Annemarie S. (Namen von der Redaktion geändert), zwei Frauen aus dem Raum Marktheidenfeld, hatten an diesem Januar-Abend, einem Freitag, 13., um 18.30 Uhr im Bordrestaurant der „Costa Concordia“ gegessen. Gegen 21.45 Uhr saßen sie im dreistöckigen „Atene Theater“ auf Deck 4. Der Zauberer hatte gerade mit seinen Kunststücken begonnen, da fiel Ursula L. der schwarze Vorhang hinter ihm auf. Er hing schräg.
Die 38-Jährige glaubte an einen Showeffekt. Es gab keine Anzeichen, dass der Kapitän das Luxusschiff mit über 4000 Menschen an Bord soeben gegen einen Felsen gesteuert hatte. Keinen Knall, keine Erschütterung. Dann wurde es schlagartig stockdunkel. Die ersten Menschen im Saal fingen an zu kreischen.
Ursula L. und Annemarie S. begriffen schnell den Ernst der Lage. Von ihrem Platz auf der Mittelebene hatten sie es nicht weit zur Türe. Draußen im Gang rollten Abfalleimer herum, Bilder waren von den Wänden gefallen. In einer Ecke kauerte eine Frau, die zum Bedienungspersonal gehörte, sie schrie und weinte.
Es war ein weiter Weg für Mutter und Tochter vom Theater am Bug bis zu ihrer Kabine auf Deck 2, im hinteren Drittel des Schiffs. So schnell wie möglich wollten sie dorthin, ihre Schwimmwesten holen. Ursula L. nahm ihre 68-jährige Mutter an der Hand und lief mit ihr durch das Restaurant „Roma“. Die Frauen stiegen über zerborstene Gläser und Teller und mussten darauf achten, nicht auf Menschen zu treten, die auf dem Boden lagen oder saßen. Ein Besatzungsmitglied, das ihnen auf Deutsch hätte sagen können, was passiert war, trafen sie nicht.
Das Licht in Kabine Nummer 2375 funktionierte nicht mehr, als Ursula L. und Annemarie S. dort angekommen waren. Auf dem Flur war es noch hell. Trotzdem musste Ursula L. im Dunkeln nach den beiden Schwimmwesten suchen. Die Türe zu ihrer Kabine ließ sich nur nach innen öffnen – und um den Schrank direkt hinter der Türe öffnen zu können, musste sie diese wieder schließen.
Annemarie S. tastete in der Finsternis nach ihrer Taschenlampe und nahm sie mit, genau wie ihre Handtasche. Ihre Tochter dagegen ließ alle persönlichen Dinge zurück: Kleidung, Netbook, Bücher, Fotoapparat, Handy. Das Einzige, was sie bei sich hatte, waren zwei Flaschen Wasser, damit sie und ihre Mutter etwas zu trinken hatten, und ihre Bordkarte. „Mir ist da schon bewusst gewesen, dass es jetzt um Leben und Tod geht“, sagt Ursula L.
Über zwei Treppen liefen die Frauen hoch auf Deck 4, zu den Rettungsbooten. Sie waren dort schon mal gewesen, als am zweiten Tag ihrer Reise die zentrale Notfallübung stattfand. „Diese Übung war ein totaler Witz“, sagt Ursula L. Normalerweise sollten alle neu an Bord gegangenen Passagiere daran teilnehmen – dennoch wurden viele einfach weggeschickt, darunter Rollstuhlfahrer, Menschen mit Kindern und Senioren. „Die Sicherheit wurde vernachlässigt von vorne bis hinten, ich habe mich nicht in guten Händen gefühlt“, sagt Ursula L.
Die 38-Jährige erzählt, sie sei schon zweimal auf dem Kreuzfahrtschiff „AIDAluna“ gewesen. Da habe die Crew den Urlaubern erklärt, wie sie sich im Ernstfall zu verhalten hätten und in welchem Bereich von A bis Y sie sich sammeln müssten. Auf der „Costa Concordia“ gebe es dagegen nur die Bereiche A und B – der eine links, der andere rechts. 2000 Menschen hüben, 2000 drüben. Ursula L. sagt: „Wenn ich nicht schon zweimal auf der ,AIDAluna‘ gewesen wäre, hätte ich in diesem Notfall nicht sofort gewusst, was zu tun ist.“
Etwa eine geschlagene Stunde standen Mutter und Tochter vor dem Rettungsboot Nummer 19. Unter freiem Himmel erlebten sie, wie der Kapitän das sich neigende Schiff einmal um die eigene Achse drehte – offenbar mit dem Ziel, es wieder in die Waagrechte zu bringen. Das Manöver brachte jedoch nichts, denn nun kippte die „Costa Concordia“ langsam auf die Inselseite. Die Evakuierung begann – „viel zu spät“, klagt Ursula L.
Sie und ihre Mutter kletterten in das Rettungsboot, das Wasser reichte bereits hinauf bis zum Deck 2. Während das Boot herabgelassen wurde, bereitete ein Besatzungsmitglied die Insassen darauf vor, im Meer werde es „schrecklich tanzen“. So war es dann auch: Im Auf und Ab der Wellen hatten die beiden Frauen zum ersten Mal Todesangst. Annemarie S. erzählt, das Boot habe hohe Bordwände gehabt, darüber sei eine Plane gespannt gewesen. „Das war wie in einer Nussschale, wie in einer Kapsel. Wenn hier etwas passiert wäre, wären wir nicht mehr rausgekommen“, sagt sie.
Eine eigene Beleuchtung hatte das motorbetriebene Rettungsboot nicht. Hell war es nur durch die Lichter der „Costa Concordia“ – und ein bisschen auch durch die Taschenlampe von Annemarie S. Die „Steuermänner“ lenkten das Boot praktisch auf Zuruf.
Die Frauen aus dem Raum Marktheidenfeld hatten bei ihrer Flucht von Bord sogar noch Glück. Es gab Boote, bei denen die Aufhängungen rissen und die nur mit schwerem Gerät aus ihrer Verankerung gelöst werden konnten.
Ursula L. und Annemarie S. gehörten zu den ersten Passagieren, die an der Mole im Hafen der Insel Giglio wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Weil Ursula L. ihr Handy in der Schiffskabine gelassen hatte, bat sie einen deutschen Touristen, ob er ihr seines ausleihen könne. Kurz vor 23.30 Uhr erreichte Ursula L. ihren Mann und erzählte ihm, was passiert war und dass sie und ihre Mutter trotz allem wohlauf seien.
Die Bewohner der Insel hatten natürlich trotz der späten Stunde mitbekommen, welche Tragödie sich vor ihrer Küste ereignet hatte. „Für ihre Hilfsbereitschaft gebührt ihnen allergrößter Dank“, sagt Ursula L., die genau wie ihre Mutter bei ihrer Rettung lediglich ihre Abendgarderobe anhatte. Die beiden Frauen wurden in warme Decken gehüllt, ihnen wurden Orangen, Bonbons und Kuchen gereicht. „Die Menschen haben alles gegeben, was sie hatten“, sagt Annemarie S. Die kleine Hafenkneipe und die Apotheke wurden geöffnet, der Pastor schloss die Kirche auf. Dort wärmte sich Annemarie S. auf, während sich ihre Tochter auf die Suche nach den anderen Passagieren aus ihrer 55-köpfigen Reisegruppe machte. Etwa 25 konnte sie so zusammentrommeln. An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken.
Mit der Autofähre wurden die Urlauber in den frühen Morgenstunden des Samstag zurück ans Festland gebracht: nach Porto Santo Stefano. Das Gefühl, erneut ein Schiff besteigen zu müssen, sei „alles andere als berauschend“ gewesen, sagt Ursula L. Etwa eine Stunde dauerte die Überfahrt – eine gefühlte Ewigkeit. In Porto Santo Stefano wurden die Reisenden in einem beheizten Militärzelt versorgt und handschriftlich registriert.
Ein Bus brachte Ursula L. und Annemarie S. dann ins sieben Stunden entfernte Savona. Hier hatte die Kreuzfahrt der beiden Frauen aus dem Raum Marktheidenfeld eine Woche zuvor begonnen. In Savona trafen sie ein Ehepaar wieder, mit dem sie während ihrer glücklichen Zeit auf der „Costa Concordia“ viel gemeinsam unternommen hatten. Doch zur Wiedersehensfreude gesellte sich auch große Sorge: Ein anderes Ehepaar, mit dem sich Ursula L. und Annemarie S. ebenfalls sehr gut verstanden haben, gilt noch immer als vermisst.
Der Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Mailand, Jürgen Bubendey, vermittelte den Reisenden, die die Kreuzfahrt über das Kleinostheimer Unternehmen Stewa-Touristik gebucht hatten, ein Hotel in Albissola. Am Sonntag, nach einer unruhigen Nacht, begann schließlich die letzte Etappe der Odyssee: Mit einem Stewa-Bus ging es zurück in die Heimat. Seit Sonntagabend sind Mutter und Tochter wieder im Landkreis Main-Spessart.
Gleich am Montag hat Ursula L. ihre Kredit- und EC-Karten sperren lassen, sie hat Passfotos gemacht, neue Pässe und einen neuen Führerschein beantragt. Alles Dokumente, die in ihrem Portemonnaie auf dem Schiff geblieben sind. Demnächst hat sie einen Termin bei einem Anwalt, mit dem sie über versicherungsrechtliche Fragen und eventuelle Schadenersatzansprüche sprechen möchte.
Die Familie ist seit den dramatischen Ereignissen auf der „Costa Concordia“ noch enger zusammengerückt. Ursula L. sagt, sie freue sich „über jedes Stückchen Normalität“. Ablenkung verschaffen ihr die Kinder oder die Arbeit, zu der sie in der vergangenen Woche schon zweimal gegangen ist. „Das Leben muss weitergehen“, sagt sie.