Auf dem Weg zur ersten Pole-Dance-Stunde meines Lebens: Im Autoradio läuft Joe Cockers "You can leave your hat on". Ich habe keinen Hut auf, aber in meinem Kopf tauchen unweigerlich Bilder aus typisch amerikanischen Movies auf. Dollarnoten, die in winzigen Tangas verschwinden, laszive Frauen, die sich in verrauchten Bars an Stangen räkeln – zur Freude der Männerwelt. Alle Klischees erfüllt. Aber nein: Ich will unvoreingenommen bleiben. Schließlich ist Pole Dance inzwischen ein anerkannter Sport, in den Städten sprießen die Pole-Studios aus dem Boden, wenngleich in Main-Spessart die Angebote noch eher selten sind.
Das Cleverfit in Lohr: Hier bietet Jessica Waters zweimal wöchentlich Pole Dance an. Und langsam trudeln sie ein, die "lasziven jungen Frauen", die sich gleich an den Stangen räkeln werden. Doch siehe da: Wie die Frauen aus den Barszenen alter US-Schinken sehen die gar nicht aus. Es sind ganz normale junge Frauen aus Main-Spessart, einige super durchtrainiert, andere mit ganz normaler Statur, natürlich, freundlich, manche sogar ein bisschen schüchtern.
Jessica Waters switcht das rote Licht in dem extra für Pole ausgestatteten Trainingsraum in weißes Licht um. "Das Rot mag ich nicht", sagt sie. Die Klischees beginnen zu bröckeln. Und das Aufwärmtraining beginnt schweißtreibend.
Wie ein nasser Sack
Ich halte mich ganz gut unter den teils 20 Jahre jüngeren Kursteilnehmerinnen. Dank sei Yoga und Co. Kraft- und Dehnübungen, Spagat und Kopfstand laufen ganz gut, nur bei einem imposant aussehenden Balanceakt auf einer Hand am Boden, die Beine in der Luft gegrätscht, plumpse ich zur Seite wie ein nasser Sack.
"Judo, Turnen, Voltigieren, Basketball", Jessica Waters zählt auf, was sie alles schon gemacht hat. "Und dann kam Pole", sagt die Trainerin, die sich 2015 auf den ersten Tanz an der Stange in den Sport verliebt hat. Eine super Lehrerin habe sie damals gehabt, dann schnell ihren eigenen Trainerschein gemacht und seitdem vergeht bei ihr keine Woche ohne Pole Dance. Kraft, Ausdauer, Flexibilität, das seien nur einige der Dinge, die Pole Dance mit sich bringe. "Man lernt seinen Körper auf ganz andere Art kennen, entwickelt ein besseres Körperbild und das führt auch zu mehr Wohlbefinden und Selbstvertrauen", erklärt Waters.
Ob es die ersten einfachen Figuren an der Stange sind oder ein fortgeschrittener Pole Dance: "Das Tolle sind die sportlichen Erfolge, die man hat. Durch Pole erfährst du, zu welchen Leistungen dein Körper fähig ist, dass du Dinge kannst, an die du vorher gar nicht gedacht hättest und dass die auch noch ästhetisch aussehen", sagt Waters. Was den Frauen hier so am Pole Dance gefällt, außer, dass es einfach Spaß macht, läuft in die Runde gefragt auf eine Antwort hinaus: "Man fühlt sich einfach gut und bekommt wirklich mehr Selbstvertrauen."
Kleidung rutscht an der Stange ab
Das Aufwärmen ist vorbei. Die jungen Frauen schlüpfen aus ihren langen Leggings, darunter kurze Sportshorts oder sexy Höschen. Dass man Pole Dance nur spärlich bekleidet trainiert, hat übrigens neben dem ästhetischen Look noch einen einfachen Grund. Die Kleidung ist an der Stange einfach zu rutschig. "Man kann auch sticky Leggings tragen, aber dann hält wahrscheinlich die Leggings an der Stange und man rutscht aus der Hose", erklärt Waters. Das wäre wahrscheinlich weniger sexy, aber ja, es darf und soll tatsächlich auch gut aussehen.
"Klar spielen wir auch mit dem Look", sagt Waters, die sich gegen eines konsequent verwehrt: das typische "Stripperinnen-Image" des Pole Dance. "Das gibt es leider immer noch. Und kaum einem ist bewusst, wie hart, anstrengend und schmerzhaft das Training ist", sagt Waters. Der typische Männerspruch, den alle hier kennen: "Du kannst auch mal an meiner Stange tanzen." Die Frauen verdrehen die Augen und Jessica Waters kommentiert in einer Mischung aus Wut und Genervtheit: "Das können die sich echt wohin stecken. Jeder, der Pole vorverurteilt, ist eingeladen, mal zum Training zu kommen."
Nichts für Jammerlappen
Und wie in allem scherzt Waters hier nicht: Das Training ist hart, anstrengend – und schmerzhaft. "Streck die Füße!", "Höher das Bein!", "Wisch mit den Haaren den Boden!", noch so ein Spruch, mit dem Waters die Frauen zu Höchstleistungen antreibt. Für Jammerlappen ist das nichts. Schon nach einer Viertelstunde kann ich die noch unsichtbaren blauen Flecken an den Schienbeinen spüren, die ich fest an die Stange presse, um nicht runterzurutschen. Ihre schöne Farbe werden sie erst am nächsten Tag bekommen.
Ein paar schöne Anfänger-Moves: Ich schwinge wie schwerelos um die Stange. So zumindest soll es aussehen, während mein ganzes Gewicht an Armen und Schulter zieht. Zwischen Hand und Stange quietscht es. Die Haut fängt an zu brennen. "Lächeln! Und mehr in die Rückbeuge, streck die Zehen", ruft Waters.
"Wir machen auch Choreos"
Die Ergotherapeutin aus Lohr hat lange für sich behalten, dass sie leidenschaftliche Pole Dancerin ist – wegen des schlechten Images des Sports, das ihm heute noch anhängt. Mit eigener Praxis im ländlichen Frammersbach war sie sich nicht sicher, ob das gut bei ihren Patienten ankommen würde. "Ich habe lange gehadert, ob ich Pole lieber verstecken oder frei ausleben soll. Aber dann habe ich mir gedacht, das ist halt mein Hobby, das ist ein super Krafttraining und die Leute dürfen das ruhig wissen." Heute ist sie froh über diese Entscheidung und animiert auch ihre Schülerinnen, selbstbewusst zum Polen zu stehen.
Jede der Frauen trainiert hier in ihrem eigenen Stil. "Wir machen auch Choreos, aber das Training ist auch sehr individuell. Manche mögen mehr Flexibilität im Rücken, andere üben mehr mit Splits in den Beinen oder mit Kraft", sagt Waters, die jeder Teilnehmerin hilft, sich auf ihre eigene Art weiterzuentwickeln. So sei jede Tänzerin auf das eigene Training fokussiert und trotzdem gebe es den Background aus der Gruppe. Auch Freundschaften entstehen da. Man trifft sich nicht nur beim Training, auch privat gehen die Frauen gemeinsam aus.
"Das Schöne ist, bei uns kann jede kommen und jede ist willkommen", sagt Waters. Egal welcher Körperbau oder wie sportlich: von Mädels bis Muttis ist die Truppe bunt gemischt. Wichtig ist Waters nur eines: dass die Tänzerinnen Ehrgeiz entwickeln und Freude beim Ausprobieren neuer Möglichkeiten haben.
Noch einmal und noch einmal
Und der Ehrgeiz packt einen schnell, wenn das Pole-Fieber zuschlägt. Der Anspruch: Es muss perfekt aussehen. Also noch einmal und noch einmal. Und tatsächlich, beim letzten Versuch einer einfachen Anfängerübung fühlt es sich für einen Moment wirklich schwerelos an, als ich um die Stage schwebe. Hände, Schulter, Schienbeine sind vergessen. Ich lächele. Und weiß spätestens jetzt: Alles, was man typischerweise über Pole Dance denken mag, ist Klischee.