"Die Schule läuft wieder, konnte man so nicht sagen," erinnert sich Adele Hauck an den 21. Januar 1946 . An diesem Tag wurde das Lohrer Gymnasium nach zehn Monaten wieder für eine begrenzte Zahl von Schülern geöffnet.
Doch der Start in die Nachkriegszeit vor 75 Jahren gestaltete sich schwierig. Das Schulgebäude am Bürgermeister-Kessler-Platz war in weiten Teilen verwahrlost, und der Unterricht konnte zunächst nur für vier der unteren Klassen von Hilfskräften erteilt werden. Erst im folgenden Schuljahr nahm nach Abschluss der Entnazifizierung wieder ein fester Stamm von Lehrern seinen regulären Dienst auf.
Schichtunterricht
Viele Klassenzimmer waren als Notunterkünfte für "displaced persons", zum Beispiel ehemalige polnische Zwangsarbeiter, genutzt worden. Wegen der Platznot, da noch viele der Räume durch die Einquartierungen in einem schlimmen Zustand waren und erst wiederhergerichtet werden mussten, begann das Schuljahr mit Schichtunterricht.
Adele Hauck besuchte damals die 6. Klasse der Mädchenoberschule, deren Klassen ebenfalls in die Räume des Gymnasiums verlegt waren. Das Gebäude der Franziskanerinnen war als Militärlazarett beschlagnahmt worden und stand für die Mädchenschule noch nicht wieder voll zur Verfügung. Jungen und Mädchen teilten sich vormittags und nachmittags die Klassenzimmer im Gymnasium. In die Tintenfässchen auf den Schulbänken steckten sie sich heimliche Botschaften, von denen die Lehrer nichts wissen durften, berichtet Adele Hauck lächelnd. Trotz schwieriger Zeiten und vieler Einschränkungen nahmen die Schüler den Neustart des Unterrichts offenbar positiv und humorvoll an.
Nachdem die Schule fast ein Jahr lang schließen musste, waren Freude und Erleichterung bei Eltern und Schülern sehr groß. "So lange zu Hause bleiben zu müssen, war viel schlimmer als der Lockdown heute wegen Corona, denn der Alltag war weitgehend trostlos", beschreibt Adele Hauck rückblickend diese Zeit.
Für die oberen Klassen ging der Unterricht erst Anfang Mai 1946 wieder los. Manche Fächer, in denen Lehrer fehlten oder von der Militärregierung entlassen worden waren, fielen einfach aus. Die Geschwister Egon und Joachim Fuhrmann schilderten zum 50. Jubiläum des Lohrer Gymnasiums ihre Eindrücke aus diesen Tagen.
Sie waren bei Kriegsende als ehemalige Soldaten in Lohr gelandet. Kurz darauf fanden sie Arbeit bei Rexroth und beim städtischen Bauhof. Als sich die Schultore wieder öffneten, wollten sie ihr Abitur hier machen. Am Gymnasium trafen sie 1946 auf "eine buntgewürfelte Schar", von der nur die eine Hälfte aus der Region stammte, die andere musste "hier erst eine neue Heimat finden". Damit spielten sie auf die große Anzahl von Heimatvertriebenen an, die jetzt in der Region lebten.
Kein Unterrichtsmaterial
Eigentlich mangelte es so gut wie an allem für einen geordneten Schulbetrieb, und das Mobiliar war stark beschädigt, soweit überhaupt noch vorhanden und nicht schon verheizt. Alle Lehrbücher und Unterrichtsmaterialien, die in einem Raum neben dem Musiksaal lagerten, waren bei Kriegsende von den Alliierten aus dem Gebäude entfernt und vernichtet worden. Auch von der Bibliothek konnten die Bücher nur teilweise und oft beschädigt aus dem Schulhof gerettet werden. Der Raum war einfach geleert und als Lagerraum der Küche für die Einquartierten benutzt worden.
Da den Lehrern jedes Unterrichtsmaterial fehlte, mussten sie den Lehrstoff Stunde für Stunde diktieren oder an die Tafel schreiben. Und es war schwierig, an Schulhefte zu kommen. Besonders lebhaft erinnerten sich die Brüder Fuhrmann daran, wie sich die hungrigen Schüler klassenweise für die Schulspeisung anstellten: "Es war immer ein schöner Moment, wenn uns der Hauswart Lorasch einen Schlag in die mitgebrachten Essgeschirre schöpfte".
Nur ein Mädchen
Adele Hauck ist vieles noch sehr präsent und sie hat auch ihre Hefte und losen Blätter aufbewahrt aus dieser Zeit, mit dem Stoff , den die Lehrer tags darauf abfragen würden. Als im September 1946 der Schüler Otmar Bilz aus Hafenlohr, der Jahrzehnte später als Oberstudiendirektor das Lohrer Gymnasium leiten würde, hier seinen Weg zum Abitur beginnt, hatte der "Unterricht volle Fahrt" aufgenommen.
In seiner Klasse gab es bis zum Abitur nur ein Mädchen, was zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich war. Das Gebäude war weitgehend wieder für den Schulbetrieb fit gemacht, "nur einzelne Fensterscheiben waren noch durch Pappdeckel ersetzt und erinnerten an die dunkle Vergangenheit". Für Otmar Bilz gab es vor 75 Jahren in Lohr das einzige Gymnasium weit und breit, das er jeden Morgen mit der Bahn erreichen konnte. Und wenn es sein musste, dann liefen er und seine Freunde auf den Bahngleisen nachmittags drei Stunden bis nach Hause.