
Kein Zweifel: Wenn er wollte, könnte der Karlstadter Alfred Hock jederzeit ein flugfähiges Segelflugzeug bauen – und das mit geringsten Mitteln, wie damals 1934. Da war er 14 und gehörte zu den Flugpionieren, die auf dem Saupurzel bald mit einer selbst zusammengeleimten Maschine abheben wollten.
Kürzlich ist Alfred Hock 98 Jahre alt geworden. Die Erlebnisse seiner Jugend hat er noch bestens in Erinnerung. Als er sich vor 84 Jahren der Karlstadter Segelfluggruppe anschloss, war erst einmal handwerkliches Geschick gefragt. Schon ein Jahr zuvor, 1933, hatte der „Fränkische Verein für Luftfahrt, Ortsgruppe Karlstadt und Umgebung“, mit dem Bau einer „Grunau 9“ begonnen. „Schädelspalter“ wurde dieses Flugzeug genannt, wegen der Strebe vor dem Kopf des Piloten.
Erst mal ein Flugzeug bauen
Die Werkstatt war im Gebäude Neue Bahnhofstraße 13, in dem oben die Schneiderei Wehner war – und vor einigen Jahren unten die Fahrradwerkstatt Giebler und dann der erste Standort des Karlstadter Tafelladens. Dort werkelten die jungen Burschen an dem Fluggerät. Die Oberaufsicht hatte der Eisenwerks-Ingenieur Fritz Faul. Hock: „Der dürfte so 60 Jahre alt gewesen sein.“ Am 26. Januar 1936 wurde das Flugzeug im Hof der Georgschule auf den Namen „Saupurzel“ getauft. Da war Alfred Hock gerade 16 geworden und durfte bald zum ersten Mal an den Steuerknüppel.
Beim damals gängigen Gummiseilstart hielten zwei Burschen das Flugzeug mit einem kurzen Seil am „Schwanz“ fest. Das schätzungsweise drei Zentimeter dicke Gummiseil wurde ähnlich wie bei einer Zwille V-förmig gespannt, zehn Meter nach rechts vorne und zehn nach links. Auf jeder Seite zogen jeweils vier Burschen, genannt die „Gummihunde“. Damit sie dabei nicht direkt am Gummiseil zerrten, war ein Hanfseil angeknüpft.
Der Pilot brüllte: „Haltemannschaft!“ Von hinten kam die Antwort: „Fertig!“ Dann: „Startmannschaft!“ – „Fertig!“ Jetzt wurde es ernst: „Ausziehen – Laufen – Los!“ Die Jungs strafften zunächst das Seil. Beim Kommando „Laufen“ begannen sie, nach Kräften zu rennen und zu ziehen. Kurz darauf ließen die Jungs am Heck los.

Zunächst nur „Rutscher“
Am 10. April 1936 absolvierte Alfred Hock die ersten „Rutscher“ – gleich drei Stück am selben Tag. Dabei hob das Flugzeug noch nicht ab, sondern glitt ein Stück auf dem Boden dahin. Aufgabe des Piloten war es, die Maschine mit dem Steuerknüppel in der Balance zu halten. Drei Wochen später durfte er noch einmal drei Rutscher machen, ehe für ihn am 17. Mai der große Tag kam: Erstmals hob er ab. Akribisch genau wurden im Flugbuch die elf Sekunden eingetragen, die er sich vom Erdboden gelöst hatte.
Nach drei ersten Flügen ging es im August weiter. Zweimal ist „Spr“ im Flugbuch vermerkt für Sprung, also ganz kurzes Abheben. Am nächsten Tag schaffte Alfred Hock mit 18 Sekunden langen Flügen seinen ersten persönlichen Rekord. „Wir haben uns langsam rangetastet und immer mehr gesteigert“, berichtet er. „Du warst ja von Anfang an auf dich alleine gestellt. Der Fluglehrer blieb am Boden.“ Das war völlig anders als heute, da Neulinge zunächst im Zweisitzer mit einem Fluglehrer fliegen.
Alfred Hock übte weiter mit einer Serie von Flügen für die A-Prüfung. 30 Sekunden in der Luft waren da gefordert. Bei seinem 24. Start gelang ihm das.
Meist Richtung Werntal
Die Karlstadter Segelflieger starteten in den 1930er Jahren von der Saupurzel-Kuppe aus. Nur die obere „Plattform“ des Berges war bewaldet. Doch es gab Schneisen. Inzwischen ist der komplette Berg derart zugewachsen, dass Alfred Hock kürzlich bei einer Ortsbegehung kaum noch die Startpunkte identifizieren konnte. Er meint, dass an der Stelle der späteren Sprungschanze gestartet wurde. Der andere Punkt müsste dort sein, wo einige Jahre ein Funkmast stand. Dann habe es noch einen kleinen Startpunkt Richtung Süden gegeben.
Leicht zu finden war für ihn die Stelle, an der die Segelflieger landeten: etwas nördlich des heutigen Radwegs von Karlstadt nach Schönarts – in einer kleinen Senke neben dem Sandweg.
Anschließend musste das gut zwei Zentner schwere Flugzeug mit einem luftbereiften, zweirädrigen Karren wieder zum Startplatz bugsiert werden. Das ging rückwärts. Der Pilot übernahm das Heck, an dem er die Deichsel des Karrens befestigte. Die anderen schoben an der Tragfläche. Hock: „Das muss man sich mal vorstellen, das Ding war schwer und es ging steil nauf.“ Da mussten alle „Gummihunde“ und die Haltemannschaft kräftig mit anpacken. Zusammengerechnet benötigte man damals fürs Fliegen zwölf Mann.
Bruchlandungen
Die B-Prüfung war anspruchsvoller. Eine S-Kurve wurde gefordert. „Wir waren nie hoch über dem Boden“, berichtet Hock. Daher brauchte es für diese S-Kurve die richtige Taktik: „Wir sind nach Norden gestartet und nach rechts Richtung Werntal abgedreht. Da hatte man dann genug Höhe für die Linkskurve.“ Die B-Prüfung absolvierte er 1938 bei einem gut zweiwöchigen Fluglager auf dem knapp 700 Meter hohen Hesselberg bei Wassertrüdingen. Dort hielt er sich bei seinen längsten Flügen schon 70 Sekunden in der Luft.
Einmal herrschte bei der Landung Seitenwind. Hock: „Ich bin in einem frisch gepflügten Acker runtergegangen, da ist die Kufe an meinem Flugzeug abgebrochen.“ Ein anderes Mal steuerte er die „Grunau 9“ Richtung Karlstadt in einen Taleinschnitt hinein. Da gab es einen kräftigen Anpfiff von Fluglehrer Richard Koch.
Das größte Abenteuer von Alfred Hock aber endete mit einer Bruchlandung. Den Bäuerlesgrund nannten die Segelflieger damals „Kong-Tal“. Einem Würzburger mit dem Spitznamen Kong (sein richtiger Nachname war Martin) war es gelungen, in das enge Tal Richtung Wern hineinzusegeln. Das wollte Hock auch. Unten aber blieb er mit der rechten Tragfläche an einer Hecke hängen. Die Maschine drehte sich um die eigene Achse und prallte mit der Spitze gegen den Hang, in dem damals die „Fuchsbäu“ waren. Dabei stellte sie sich auch noch auf den Kopf.
Schwanz abgebrochen
Alfred Hock war angeschnallt und trug einen Helm. Der „Schädelspalter“ konnte ihm nichts anhaben. Er erlitt lediglich ein paar Prellungen. „Ich habe gewunken, damit die anderen gleich sehen, dass mir nix passiert ist. Am Flugzeug allerdings war der Schwanz abgebrochen.“ Ähnliche Bruchlandungen gab es in der damaligen Segelfliegerei häufiger. Ein Kamerad landete beispielsweise einmal in einem Baum. Doch die „Grunau 9“ war gut zu reparieren.
Hock weiß noch genau, wie die Maschinen konstruiert waren. Kiefernholz, Sperrholz und Stoff waren die Grundmaterialien. Die Vorderkante der Tragfläche bestand aus sehr dünnem, dreilagigen Sperrholz. Man bog es um die Rundung der Rippen. Um es in dieser Form anzuleimen, wurde es mit Nagelstreifen angeheftet – also Sperrholzstreifen mit einer Reihe kleiner Nägel. „Man konnte das Sperrholz ja nicht mit Zwingen fixieren.“ Nach dem Trocknen des Leims wurden die Nagelstreifen wieder entfernt.
Mit Stahlseilen verspannt
Die Rippen selbst wurden im Zickzack verstrebt – ähnlich der Konstruktion eines Baukrans. „Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich die Sperrholzplättchen für die Holzverbindungen gesägt habe.“ Dann wurden die Rippen jeweils in einer Schablone in Form gebracht. Einer der Flieger, Karl Reuter, arbeitete „beim Zübert“ (Eisenwarenhandlung in der Hauptstraße). Er fertigte die Beschläge an.
Sie wurden benötigt für die Verbindung der Tragflächen mit dem Rumpf oder für die Verstrebungen unter den Tragflächen. Um mit den damaligen einfachen Mitteln ein Segelflugzeug statisch zu stabilisieren, gab es nach oben, nach unten und nach hinten jeweils vier Verspannungen mit Stahlseilen, die mit Spannschlössern auf Zug gebracht wurden. Und der Stoff auf den Tragflächen wurde am Ende mit Spannlack bestrichen. Der straffte ihn und machte ihn luftdicht.
Untergestellt war das Flugzeug in der Schäferhütte am südlichen Saupurzel. Heute ist davon noch das „Mäuerle“ übrig, an dem jährlich das U&D stattfindet. In dieser Schäferhütte übernachteten die Würzburger Segelflieger, die jedes Wochenende nach Karlstadt kamen.
Vorbereitung auf die Luftwaffe
Waren die Karlstadter Segelflieger bei ihrer Gründung noch ein unpolitischer Club flugbegeisterter Enthusiasten, so änderte sich das mit der „Gleichschaltung“ der Nationalsozialisten ab 1933. Alles gesellschaftliche und politische Leben wurde ihrer Ideologie unterworfen. Daher wurde auch der Segelflug auf dem Saupurzel in dieser Zeit gefördert, um späteres Personal für die Luftwaffe zu gewinnen. So ist auch Alfred Hocks Flugbuch mit „Nationalsozialistisches Fliegerkorps“ (NSFK) überschrieben.
Burschen wie er sahen die Fliegerei jedoch nicht politisch; für sie war es in erster Linie eine spannende Freizeitbeschäftigung, die der Abenteuerlust und dem Technikinteresse der Jungs entgegenkam. Hock: „Das hat uns natürlich gefallen, es gab ja sonst nichts weiter. Und wir mussten nichts dafür bezahlen.“ Das Segelflugzeug kostete damals nur das Material. Und das wurde vom NSFK gestellt.
Die C-Prüfung auf dem Saupurzel
Alfred Hock flog bis zu seinem 19. Lebensjahr auf dem Saupurzel. Neben dem Fluglager auf dem Hesselberg nahm er noch an einem weiteren in Laucha an der Unstrut teil. Und einmal startete er auch auf der Wasserkuppe, dem Berg der Segelflieger. Er berichtet: „Ich habe auch als einziger auf dem Saupurzel die C-Prüfung gemacht.“ Im Mai 1940 absolvierte er dafür mit einer „Grunau Baby“, die es inzwischen in Karlstadt gab, sechs Flüge mit jeweils mindestens zwei Minuten Dauer und einer S-Kurve. Sein Rekord stand jetzt bei rund viereinhalb Minuten in der Luft.
1939 wurde Alfred Hock zwar zur Luftwaffe eingezogen, musste aber nie in einer Kriegsmaschine fliegen. Bei der Fluganwärterkompanie Lechfeld schob er ausschließlich Wache – und hatte auch Gelegenheit zum Segelfliegen. Dort wurde längst nicht mehr mit dem Gummiseil gestartet, sondern im Schlepp hinter einer Motormaschine. Eine tschechische Zlin oder eine französische Morane-Saulnier schleppte die Segler in die Höhe. Da gelangen etliche Flüge von einer Viertelstunde und mehr.
Dort flog der Karlstadter erstmals auch in Zweisitzern, dem geschlossenen „Kranich“ und der „Gö-4“, einem Segelflugzeug, in dem Fluglehrer und -schüler nebeneinander saßen. Um den Rumpf dennoch nur 92 Zentimeter schmal halten zu können, mussten beide Insassen ihre äußere Schulter und den Arm jeweils innen in die Tragfläche stecken. Im April 1941 legte Alfred Hock dort in einer „Grunau Baby“ den Luftfahrerschein für Segelflugzeugführer ab. Er berechtigte zu Überlandflügen.
Nach dem Krieg keine Zeit mehr
Später wurde Hock im Krieg Zugbegleiter zwischen Innsbruck und Italien. Er gehörte zur Wachmannschaft von Güterzügen, die beispielsweise Telegrafenstangen oder Torpedos transportierten. So kam er bis nach Sizilien. Als die Wehrmacht Ältere für diesen Dienst einsetzte, meldete er sich zu den Gebirgsjägern.
Nach dem Krieg war die Fliegerei in Deutschland zunächst verboten. Als die Segelflieger auf dem Saupurzel wieder begannen, hatte Alfred Hock anderes zu tun: Hausbau und zehn Jahre Arbeit bei Opel in Rüsselsheim. Er flog nie wieder selbst, mehrmals jedoch als Passagier.
Endlich trat er in den 1990er Jahren dem Karlstadter Luftsportclub bei und stellte seine handwerklichen Fertigkeiten in den Dienst der Fliegerei – fast wie einst in der Jugend. Als gelernter Polsterermeister repariert er die Schutzüberzüge
Gerade ist der 98-Jährige dabei, einen Tisch und Bänke abzuschleifen und neu zu streichen. „Dabei tu ich aber auch die Jugend anhalten, dass sie mitmacht.“
Hocks Flugbuch belegt alle 126 Starts, vom ersten Hüpfer bis zum letzten am 23. Januar 1943. Sein längster Flug dauerte 32 Minuten, absolviert 1941 über Lechfeld. Dieses Flugbuch wurde viel bestaunt, als Alfred Hock jetzt bei der Würzburger Landesgartenschau die Gummiseilstarts eines Museumsflugzeugs von der Wasserkuppe verfolgte. Der 98-Jährige nahm auch mal auf dem Pilotensitz der Maschine Platz und stellte fest: „Die könnte ich heute noch fliegen.“








