Irgendwann hat es Kurt Schüll gepackt. Die einen sammeln Münzen, die anderen fahren auf edle Whiskys ab, der ehemalige Lehrer aus Marktheidenfeld hat eine Leidenschaft für ungeklärte Flugzeugabstürze im Zweiten Weltkrieg entwickelt. Unermüdlich forscht er in Archiven, streift mit der Metallsonde durch Wälder und befragt die wenigen noch lebenden Zeitzeugen, um wieder ein Schicksal zu klären, ein Ereignis jener Zeit vor dem Vergessen zu bewahren. Abgeschlossen ist ein Fall für ihn erst, wenn ihn eine Gedenktafel dokumentiert. "Das sind wir den Opfern, gleich welcher Nation, schuldig", sagt er.
Einen dicken Aktenordner füllen inzwischen die Unterlagen über ein Ereignis, das Schüll besonders bewegt: der Abschuss eines viermotorigen amerikanischer Bombers vom Typ B 17 F durch deutsche Jagdflieger am Nachmittag des 14. Oktober 1943. Herausgekommen sei ein richtiger Kriminalfall, meint der Heimatforscher. An jenem Donnerstag waren mehrere Hundert Bomber von Westen her im Anflug auf Schweinfurt, darunter auch "Sad Sack" (Trauriger Sack), wie die zehn Mann der Crew ihre Maschine getauft hatten. Über dem Spessart kurz vor Weibersbrunn soll laut Schüll eine Me 110 das amerikanische Flugzeug unter Beschuss genommen haben.
Unter den Einschlägen der Geschosse riss die hintere Seite des Bombers, in dem sich ein Zwillingsmaschinengewehr befand, ab. Das Teil schlug in der Gemarkung Weißenstein in den Boden. Zwei Weibersbrunner Buben, Otmar Väth und Albert Benz, fanden es später auf einer Wiese. Nachdem an Bord Feuer ausbrach, sprang der Heckschütze mit dem Fallschirm ab. Wenig später, nachdem das gesamte Heck weggebrochen und in der Waldabteilung "Eichhall" niedergegangen war, folgten ihm vier weitere Soldaten. Diese Vier wurden gefangen genommen und konnten nach dem Krieg zu ihren Familien nach Amerika zurückkehren.
Flugzeug explodierte kurz vor dem Versuch einer Notlandung
Schüll vermutet, dass die fünf anderen Besatzungsmitglieder wohl hofften, auf einer Wiese im Weihersgrund notlanden zu können. Ein verhängnisvoller Fehler, denn der Bomber explodierte noch in der Luft. Die fünf Soldaten kamen ums Leben. Der Rumpf mit dem Bug ging auf der Metzenwiese nieder, eine Tragfläche trudelte etwa 400 Meter entfernt davon zu Boden. Noch heute findet man auf einer Fläche von etwa zwei Hektar im Waldboden kleinste Flugzeugteile.
Doch wo war jener GI geblieben, der als erstes aus dem Bomber abgesprungen war? Im Oktober 1943 waren in Weibersbrunn die sogenannten Laubtage, an denen sich die Bewohner Streu aus dem Wald holen durften. Hierbei soll der US-Soldat von zwei Frauen aus dem Dorf am 16. Oktober, also zwei Tage nach dem Abschuss des Fliegers, tot aufgefunden worden sein. Nach den Schilderungen habe der Tote bäuchlings über einem Wurzelstock gelegen, zugedeckt mit einem Teil seines Fallschirms, während der andere Teil noch in einer Baumkrone hing. Der Fund wurde gemeldet, die Leiche wenige Stunden später abgeholt.
Im Feuerwehrhaus aufgebahrt und dann beerdigt
Beim Auffinden habe der Tote außer einer Armbanduhr nichts mehr bei sich gehabt. Keine Ausweise, keine Erkennungsmarke, kein Kompass oder persönliche Dinge. Die Armbanduhr, die die Finder an sich nahmen, mussten sie später abgeben. Ein Offizier der deutschen Luftwaffe nahm sie als "hinterlassenes Eigentum" mit. Nach der Auswertung der Aussagen von über zehn Zeitzeugen und der noch vorhandenen Papiere der Behörden aus der Kriegs- und Nachkriegszeit kann Kurt Schüll berichten: "Über das Wochenende wurde der Tote im Feuerwehrhaus aufgebahrt. Tags darauf fand die Beerdigung statt, wobei Pfarrer Josef Rönnebrink eine Grabrede hielt. Der Tote bekam auf dem Friedhof ein Einzelgrab, das laut Anordnung des Landratsamtes gepflegt werden musste."
Auf diese Beerdigung wird auch in der Weibersbrunner Ortschronik hingewiesen. Kein Hinweis findet sich darin jedoch auf den Eintrag, den der Pfarrer damals ins Matrikelbuch der Pfarrei machte: "Unbekannter Amerikaner, beim Fallschirmabsprung aus einem abgeschossenen Bomber verunglückt, etwa 20 Jahre alt, ohne Papiere. Tod wahrscheinlich durch Kopfschuss am Tag des Auffindens beim Angriffe umgekommen. Begraben auf ausdrücklichen Wunsch der Militärbehörde."
Bei den Behörden als toter Engländer registriert
Rätselhaft ist, weshalb die Gemeinde den Amerikaner damals dem Landratsamt als englischen Soldaten meldete und dies auch so in die deutschen Unterlagen, später folglich auch ins "Area Search Certificate" der US-Army vom 15. Februar 1946 Eingang fand. Eine bewusste Vertuschung? Heimatforscher Schüll geht davon aus und meint, dass die Angst vor den Amerikanern wegen einer Nachverfolgung nach dem Krieg schon Ende 1943 groß gewesen sei.
Außerdem vermutet Schüll wegen des Kopfschusses, dass der GI bei oder nach der Landung von einem NS-Fanatiker erschossen wurde. Solche "Fliegermorde" waren oft durch Gauleiter und NSDAP-Kreisleiter angewiesen und gab es in größerer Zahl. 225 dieser völkerrechtswidrigen Tötungen sind bekannt, ihre Zahl dürfte jedoch weit höher liegen (Barbara Grimm: Lynchmorde an alliierten Fliegern im Zweiten Weltkrieg, München 2007, ISBN 3-486-58084-1).
Dass es sich um einen US-Soldaten gehandelt haben muss, gehe aus der Notiz des Ortspfarrers, den Angaben von Zeitzeugen zu seiner Uniform und der Tatsache, dass der zehnte Mann der Bomberbesatzung anderswo nicht gefunden wurde, hervor. Die Falschmeldung der Gemeinde führte letztlich dazu, dass der US-Soldat spurlos verschwand. Als die US-Army 1947 in Weibersbrunn eine Exhumierung vornahm, forschte sie deshalb nicht nach dem Opfer aus dem "Sad Sack", sondern grub nur zwei US-Soldaten aus, die 1944 bei einem anderen Absturz ums Leben gekommen und auf dem Friedhof beerdigt worden waren. Den vermeintlich britischen Soldaten suchte sie nicht.
Noch heute auf dem Friedhof begraben?
Die Amerikaner gingen davon aus, dass sich die sterblichen Überreste des Vermissten unter jenen der Opfer befanden, die am Absturzplatz des Bombers gefunden wurden. Für Schüll steht damit fest: "Folglich kann man davon ausgehen, wenn die Behördenunterlagen stimmen, dass er noch heute im Friedhof von Weibersbrunn begraben liegt."
In der Gemeinde selbst ist davon 77 Jahre nach dem Vorfall offenbar nichts mehr in den Akten zu finden. So schreibt Bürgermeister Walter Schreck auf Anfrage: "Es ist nicht bekannt (und schon gar nicht wahrscheinlich), dass amerikanische Soldaten vor Mai 1945 auf einem deutschen (naziverwalteten) Friedhof beerdigt wurden." Auch Anfragen von US-Behörden lägen nicht vor. Über eine Gedenktafel wurde bislang im Gemeinderat folglich auch definitiv nicht nachgedacht.
Wer aber war der scheinbar aus den Unterlagen verschwundene Soldat? Es war, wie Kurt Schüll recherchierte, Sergeant Harold Keith McClean, der aus Pittsburgh im US-Bundesstaat Pennsylvania stammte. Er hinterließ eine Frau und einen Sohn. McCleans Sterbetag war für die Familie besonders tragisch: Es war der Tag seines 24. Geburtstags.