
"Mal raus aus dem Hamsterrad", wollte er. Andere Menschen fahren dann zwei Wochen an den Gardasee. Peter Lengler aber, aus Gemünden-Wernfeld stammender IT-Spezialist bei SAP, will auf dem Appalachian Trail in den USA über 3500 Kilometer zu Fuß zurücklegen. Am 8. März ist der 57-Jährige gestartet - 80 Prozent der Wegstrecke hat er schon hinter sich gebracht. Bis 15. August hat er noch 373 Meilen, rund 600 Kilometer also, vor sich.
"Der Appalachian Trail ist der längste zusammenhängende Hiking-Pfad in den USA, auf dem Pferde oder Fahrräder nicht gestattet sind", sagt Lengler. "Der hat mich schon immer gereizt." Während der Genesung nach einem schweren Unfall mit Kopfverletzungen im Vorjahr dachte sich Lengler, der im Beruf massenweise Urlaubszeit angehäuft hatte: "Wenn nicht jetzt, wann dann?"

Eine riesige Herausforderung
Der Wernfelder läuft in nördlicher Richtung vom Startpunkt in Georgia zum Endpunkt in Maine durch insgesamt 14 Bundesstaaten. Verschiedene Varianten des Jakobswegs hat Lengler schon bewältigt, die Alpen hat er ebenso wie die Tigersprungschlucht in China überquert. "Das waren Touren von höchstens zehn bis zwölf Tagen", sagt er. "Dieser Trip über fünf Monate mit 150 000 Höhenmetern ist etwas ganz anderes."
Beim Start im März waren die Temperaturen in den Wäldern von Georgia unerbittlich. "Die ersten vier Wochen lang gab's noch Schnee", erzählt Lengler. Dann kam Corona in die USA. Die Gesellschaft zur Bewahrung des Appalachian Trail ATC bat alle Hiker, den Trail zu verlassen. "Die meisten Europäer sind heimgereist." Lengler nicht. "In diesem Jahr sind wegen Corona nur 250 bis 400 Leute auf dem Trail unterwegs, ein Bruchteil der sonstigen Zahlen." Rund 80 Prozent seiner Zeit sei er sowieso allein unterwegs, 90 Prozent der Strecke befände er sich im Wald. "Ein befreundeter Hiker sagte zu mir: ,Bleib auf dem Trail, die Bäume sind nicht infiziert.'"
Soll heißen: Die Gefahr einer Ansteckung besteht eventuell beim Einkaufen oder in einer Unterkunft, nicht aber in der freien Natur. Tatsächlich, sagt Lengler, bekomme er in der Natur manchmal tagelang nichts mit von Covid, "außer beim Blick ins Smartphone".

Lengler trägt gut 20 Kilogramm Gepäck mit sich herum, darunter ein Zelt, eine mobile Dusche, einen auch von Bären nicht zu öffnenden Lebensmittel-Behälter und eine Kaffeekanne, in der Kaffee gebrüht und der Kaffeesatz nach unten gedrückt wird. "French Press" nennen die Amerikaner eine derartige "Presstempelkanne". Und weil Lengler daraus gerne andere Hiker mit Kaffee versorgt und ein derartiger Luxusgegenstand auf dem Trail eine Seltenheit ist, wurde daraus sein Trail-Spitzname. "Fast jeder hier auf dem Trail hat einen Spitznamen, meiner ist French Press."
Weitere oder mittlerweile aussortierte Ausrüstungsgegenstände schicken erfahrene Hiker per Paket voraus. "Wenn man dieses Paket nicht öffnet, lässt es sich telefonisch ohne Extrakosten zur nächsten Station weiterleiten." Ab und an geht der Main-Spessarter mal in ein Dorf, versorgt sich mit Proviant, isst dort einen Hamburger oder packt zu warm gewordene Klamotten ins Paket. "Einmal die Woche ist auch eine Übernachtung in einem Hostel nötig, um Wäsche zu waschen und andere Dinge zu erledigen."
Meistens aber übernachtet Peter Lengler im Freien, im Zelt oder in den entlang des Weges errichteten, meist an einer Seite offenen Holzhütten. "Diese Shelters sind wegen Corona eigentlich in den meisten Staaten gesperrt. Trotzdem kommen die Hiker abends dort zusammen." Wer den Tag über acht bis zehn Stunden alleine durch den Wald geht, braucht am Abend etwas Ansprache und soziale Kontakte. "Es gibt eine tolle Kameradschaft unter den Hikern auf dem Trail. Und es gibt sehr viele Tagesausflügler, die uns helfen mit Obst oder mal einem Bier oder anderen Dingen."

Besonderer Zusammenhalt auf dem Trail
Abends sitzen die überwiegend männlichen Hiker zusammen und erzählen von ihren Erlebnissen unterwegs oder im Leben. "Wenn man sich nur auf dem Trail kennt, verschwinden Hierarchien und Unterschiede, wie man sie aus dem Berufsleben oder der Gesellschaft kennt. Es entsteht eine Offenheit", erzählt der Unterfranke. "Der Trail führt auch durch viele vom amerikanischen Bürgerkrieg betroffene Regionen. Das regt zum Nachdenken an."
Die Oberflächlichkeit der Amerikaner, die er von seinen beruflichen Reisen in die USA kenne, verspüre er nicht bei seinen Trail-Bekanntschaften. Diese äußerten oft, dass sie großen Respekt vor Angela Merkel hätten. Außerdem unterhalte man sich über den Brexit, die anstehenden Wahlen in den USA und deren aktuellen Präsidenten. "Bis jetzt habe ich nur Trump-Gegner kennengelernt", sagt Lengler.
Manchmal verabredet er sich mit Gleichgesinnten für den nächsten Tag, vor allem, wenn Berge zu besteigen sind. "Da empfiehlt es sich, im Team zu arbeiten." Einige Hostels oder freundliche Anwohner bieten an, die Hiker abends mit dem Auto abzuholen und am nächsten Tag wieder zum letzten Punkt zu bringen. Dann können Berge mit leichtem Gepäck erklommen werden – "slackpacking" nennen das die Hiker – und gegebenenfalls gleich zwei Nächte hintereinander in einem echten Bett verbracht werden.
"Einmal kamen mehrere Leute vier Nächte lang im Privathaus eines freundlichen Gastgebers unter. Was zuhause normal ist - täglich Duschen, warmes Wasser, gutes Essen, ein Bett -, war in diesen Tagen der größte vorstellbare Luxus", erzählt der Wernfelder. "Für die Holzhütten, Camping Grounds und Hostels gibt es unter den Hikern eine Kategorisierung. Ein normales Haus liegt weit darüber, Diamant-Level nennen wir das im Scherz."

Viel Zeit für Gedanken und Gebete
Meistens aber ist Lengler tagsüber allein mit sich und seinen Gedanken. "Der Wald ist so dicht, dass man kaum einmal den Horizont sehen kann. In den ersten Wochen war es zudem sehr neblig. Das kann etwas bedrückend werden. Aussichtspunkte entlang des Trails sind sehr beliebt." Der Wernfelder erzählt, er habe auf dem Weg viel in seinen Erinnerungen gekramt, mit manchen Begebenheiten seinen Frieden geschlossen und für die Zukunft Pläne geschmiedet. "Und ich bete viel. Ich komme aus einer sehr katholischen Familie, mein Vater war Küster, mein Onkel Franziskaner-Pater, meine Tante Nonne. Vielleicht klingt das blöd, aber das Beten gibt mir Kraft."
Das scheint zu wirken. Der 57-Jährige kam bisher ohne größere Blessuren durch und hat sein Tagespensum von anfangs fünf auf durchschnittlich rund 25 Kilometer am Tag gesteigert. "Ich habe mir anfangs Blasen gelaufen und einige Zehennägel verloren. Aber das ist normal." An Schlangen auf dem Weg hat er sich gewöhnt, seine Begegnung mit einer Bärenfamilie ging glimpflich aus. "Ich beobachtete drei Jungbären, die vielleicht 20 Meter von mir entfernt auf einen Baum kletterten. Auf einmal stand deren Mutter auf dem Weg." Die Bärin habe ihn angeschaut und den Weg zur anderen Seite verlassen. "Ich musste zwischen ihr und den Jungen durch. Das hat sie beobachtet und danach ist sie über den Weg zu ihren Jungen. Es war, als ob wir uns in diesem Moment verständigen konnten."

Trotz der überwältigenden Eindrücke auf seiner Reise sieht Peter Lengler seiner Heimkehr mit Vorfreude entgegen. Bis Mitte August muss er pro Tag über 20 Kilometer zurücklegen, wenn er sein Ziel, das nördliche Ende des Trails in Maine, erreichen will. "Das ist anspruchsvoll, aber machbar", sagt er. An einigen Tagen ist er über 40 Kilometer gelaufen.
Am 15. August fliegt Peter Lengler zurück nach Frankfurt. Als deutscher Staatsangehöriger unterliegt seine Einreise nach Deutschland keinen Beschränkungen. "Ich freue mich so sehr auf meine Kinder und Enkel. Und ich freue mich auf deutsches Essen, auf Brot, auf ein gutes Frühstück und süße Teilchen vom Bäcker." Gut 20 Kilo hat Lengler bisher auf seinem Trip verloren. "Wenn ich wieder zuhause bin, werde ich wohl erstmal etwas zunehmen", sagt er. "Und den Bart werde ich wieder stutzen."
Im Blog www.peterstouren.de berichtet Lengler mit vielen Bildern von seiner Reise. An einem Ruhetag auf seiner Reise nahm sich Peter Lengler Zeit für einen fast eineinhalbstündigen Video-Call.