Der 16. Juni 1929 war ein warmer Sommertag, wie geschaffen für eine längere Wanderung – eine „Fahrt“, wie es in der deutschen Jugendbewegung traditionell hieß, obwohl man sich meist zu Fuß fortbewegte.
Mit Rucksäcken, gefüllt mit Proviant, zogen etwa 15 Mitglieder des Jüdischen Jugendbundes aus Würzburg ins nahegelegene Zeubelrieder Moor. Dort angekommen, wurde Picknick gemacht, und die gut gelaunten Wanderer fotografierten sich gegenseitig.
Viele strahlten über das ganze Gesicht, als das Bild aufgenommen wurde; die Welt schien ihnen offenzustehen.
In diesem Sommer hatten die Deutschen und mit ihnen die deutschen Juden tatsächlich Grund zu Optimismus und Stolz. Im Mai hatte Emil Jannings als erster Schauspieler überhaupt den Oscar als bester Hauptdarsteller erhalten, im Juli errang der deutsche Schnelldampfer „Bremen“ das „Blaue Band“ für die schnellste Ozeanüberquerung. Die NSDAP dümpelt vor sich hin; bei der Reichstagswahl im Vorjahr war sie in Unterfranken auf gerade mal 3,7 Prozent gekommen.
Unter den Ausflüglern jenes 16. Juni befand sich die 16-jährige Paula Arensberg, die wenige Wochen zuvor aus Marktbreit (Lkr. Kitzingen) zu ihrer Großmutter nach Würzburg gezogen war. Sie hatte in ihrem Heimatort die private Realschule besucht, die nur bis zur sechsten Klasse, also zur mittleren Reife, ging. Paula aber wollte das Abitur ablegen und studieren und so wechselte sie an die Oberrealschule am Sanderring in Würzburg, das heutige Röntgen-Gymnasium.
Paula hatte schnell Anschluss in Würzburg gefunden, jener Stadt, in der rund 2200 Juden lebten und in der es mehrere jüdische Jugendvereine gab. Sie hatte sich den von Rabbiner Siegmund Hanover gegründeten neutralen Jugendbund ausgesucht, eine Gruppe, in der orthodoxe, weniger religiöse sowie zionistische Jugendliche gemeinsam ihre Freizeit gestalteten.
Ihre Entscheidung hatte nichts Ungewöhnliches. Viele Jugendorganisationen der Weimarer Republik waren konfessionell ausgerichtet. Auch Katholiken und Protestanten blieben oft untereinander, sehr zum Gefallen der jeweiligen Geistlichen.
„Wir trafen uns wöchentlich oder alle zwei Wochen am Abend“, schrieb Paula später. „Es waren meistens Diskussionsabende über politische, jüdische oder sonst interessante Themen; außerdem besprachen wir Bücher. Sonntags machten wir oft Wanderungen oder Ausflüge.“
Paula Arensberg blieb bis zum Sommer 1933 in Würzburg bei ihrer Großmutter Adelheid Vorchheimer und deren Söhnen Siegfried und Emanuel, die ein Weinversandgeschäft betrieben. Die beiden Onkel reisten viel, vor allem in Norddeutschland, und verkauften den in Flaschen abgefüllten Wein kistenweise an Haushaltungen. Alle paar Wochen kamen sie nach Würzburg, um das zu tun, was im Büro und in den Kellern erledigt werden musste.
Die Weingroßhandlung war, wie es das Religionsgesetz vorschrieb, am Samstag geschlossen und auch der Haushalt der Großmutter wurde koscher geführt. Am Sabbat wurde nicht gekocht; die Familie besaß eine Wärmekiste zum Warmhalten des Essens von Freitag bis zum Samstagmittag. Am Freitagabend, dem Beginn des Sabbats, und am Samstagmorgen gingen Paula und ihre Angehörigen zum Gottesdienst in die Würzburger Synagoge.
Eine stets vollzogene Zeremonie war die Hawdala (hebr. „Unterscheidung“) am Ausgang des Sabbats. Sie beginnt mit der Rezitation von Bibelstellen, die das Vertrauen auf Gott zum Ausdruck bringen. Dann wird – zum Zeichen des Segens und des Überflusses – Wein zum Überfließen gebracht.
Es folgt der Gewürzsegen unter Verwendung der mit wohlriechenden Kräutern gefüllten Bessomimbüchse. Jeder musste an der Büchse riechen; der Wohlgeruch sollte noch einmal an die Freuden des gerade zu Ende gehenden Sabbats erinnern.
„Ich kam aus bescheidenem Hause und hatte keine großen „gesellschaftlichen“ Ambitionen“, erinnerte sich Paula Arensberg. „Ich war mehr am intellektuellen und künstlerischen Leben interessiert.“ Die junge Frau traf sich oft mit gleichaltrigen Juden und hatte auch eine Reihe christlicher Bekannter, mit denen sie zu Vorträgen, in Konzerte und ins Stadttheater ging.
Solche sozialen Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden waren damals selbstverständlich, und niemand hätte sich vorstellen können, dass sie ein paar Jahre später unter Strafe stehen würden.
In der Stadtrandgemeinde Höchberg betrieb Gitta Ehrenreich in jenem Sommer 1929 in der heutigen Sonnemann-Straße ein kleines Pensionat für die Schüler der im Dorf beheimateten Israelitischen Präparandenschule. Aus ganz Deutschland kamen Jugendliche nach Höchberg, um sich auf den Besuch der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt in Würzburg vorzubereiten. Nach dem Examen unterrichteten sie dann als Religions- oder Volksschullehrer überall im Reich.
Die Bürgerschule, die der Präparandenschule angeschlossen war, hatte auch zahlreiche nichtjüdische Schüler.
Gitta Ehrenreichs 1913 gestorbener Mann Lazarus war eine Höchberger Institution gewesen. Er hatte der Vorstandschaft der örtlichen Turngemeinde angehört und den 1905 gegründeten Geflügelzüchterverein geleitet. Beider Sohn, der Weltkriegsoffizier Moses Ehrenreich, hatte nach dem Krieg als Erster die Mitglieder der Fußballabteilung der Turngemeinde trainiert.
Ein begeisterter Sportler war auch Ernst Ruschkewitz, Sohn des Würzburger Warenhausbesitzers Siegmund Ruschkewitz. Ernst gehörte der Würzburger Rudergesellschaft an; ein Foto aus dem Jahr 1921 zeigt ihn mit seinen christlichen Sportkameraden.
Ernsts Bruder Max hatte als Soldat im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und war mit einer schweren Verwundung zurückgekehrt. 12 000 deutsche Juden waren für ihr Vaterland gefallen; konnte es einen schlagenderen Beweis für ihren Patriotismus geben?
In Rimpar (Lkr. Würzburg) gab in jenem Sommer 1929 die 24-jährige Julie Laßmann den Dorfkindern Klavierunterricht; gelegentlich führte sie mit ihren Schülerinnen und Schülern kleine Theaterstücke auf. Auf einem Foto ist sie bei einer Faschingsfeier von ihren überwiegend nichtjüdischen Schülern umringt.
Als drei Jahre später das katholische „Fränkische Volksblatt“ eine Sonderbeilage über Rimpar herausbrachte, baten die Redakteure Julie Laßmann um einen Beitrag über Sitten und Gebräuche des Dorfes. Sie wussten: Niemand kannte sich besser in Rimpar aus als die Tochter des jüdischen Kantors.
Doch 1929, als Paula Arensberg mit ihren Freunden ins Zeubelrieder Moor wanderte, war auch ein Wendejahr, in dem die Stimmung bereits gefährlich zu kippen begann. Die im Oktober durch den Crash an der New Yorker Börse ausgelöste Weltwirtschaftskrise und die damit einhergehende Massenarbeitslosigkeit boten den Nährboden für den Aufstieg der NSDAP auch in Unterfranken.
Als Paula nach Würzburg kam, gingen die sogenannten „Goldenen Zwanzigerjahre“ bereits ihrem Ende entgegen. Juden und Christen hatten einen weitgehend überzeugenden Weg des Zusammenlebens gefunden, der allerdings schon vor der nationalsozialistischen Machtübernahme nie ganz selbstverständlich war, wie auch das Mädchen erfuhr.
„Oft hörten wir das Gerücht, dass die Juden früher zum Backen der Matzen christliche Kinder getötet hätten“, berichtete sie später. „Aber dass so etwas irgendein Mensch wirklich glauben könnte, war für mich undenkbar.“ Die „Ritualmord“-Legende war kurz vor Paulas Umzug nach Würzburg wiederaufgelebt, als am 17. März 1929 in dem bei Hofheim (Lkr. Haßberge) gelegenen Dorf Manau ein fünfjähriger Knabe mit einer Halswunde tot aufgefunden wurde und kein Täter zu ermitteln war.
Das nationalsozialistische Revolverblatt „Der Stürmer“ behauptete, der Beweis sei „einwandfrei geliefert, dass es sich hier nur um einen jüdischen Blutmord handeln kann“. Zweck des Mordes sei „die Gewinnung von Menschenblut“ für die Zubereitung der Matzen, der rituellen Brote für das Pessachfest, gewesen.
Der aus Paulas Heimatort Marktbreit stammende Otto Hellmuth, Zahnarzt und nationalsozialistischer Gauleiter, verbreitete die Lüge in mehreren Massenveranstaltungen, darunter am 30. April 1929 in Würzburg.
Die Würzburger Studentenverbindungen waren längst ins Lager der Antisemiten gewechselt. Alle Korporationen, in die zuvor auch Juden aufgenommen wurden, hatten bereits zu Beginn der Zwanzigerjahre den „Arierparagraphen“ eingeführt. Jüdischen Studenten standen daher nur noch jüdische Korporationen offen, von denen es in Würzburg mehrere gab. Paula Arensberg nahm Einladungen der 1896 gegründeten jüdischen Verbindung Veda an.
Ihre Tante Adelheid Vorchheimer wanderte 1933 zur jüngsten Tochter nach Basel aus. Als sie im September 1938 nach Palästina gehen wollte, erlitt sie einen Schlaganfall und starb. Siegfried Vorchheimer lebte seit 1933 in Palästina, sein Bruder Emanuel folgte ihm ein Jahr später.
Im Mai und Juni 1940 war Paula Arensberg im berüchtigten französische Lager Gurs nordöstlich der Pyrenäen interniert; nach der Flucht emigrierte sie im Juni 1941 von Marseille aus in die USA, wo sie mit ihrem Mann eine Musikschule aufbaute, Sprachunterricht gab und Kindersommercamps leitete. Im Jahr 2004 starb sie in Sarasota im US-Bundesstaat Florida. Deutschen Boden hatte sie nie wieder betreten.
Der Ruderer Ernst Ruschkewitz wanderte nach Holland aus. Er, seine Frau Ruth und der kleine Sohn Jan wurden Opfer des Holocaust. Sein Bruder Max, der Weltkriegssoldat, war bereits 1930 an seiner Kriegsverletzung gestorben.
Gitta Ehrenreich starb 1936; auch ihre Tochter Rebekka wurde zusammen mit ihrem Mann ermordet.
Julie Laßmann gehörte am 17. Juni 1943 zu den letzten unterfränkischen Juden, die von Würzburg aus nach Auschwitz deportiert wurden; keiner der Verschleppten hat überlebt.
Im August 1934 hatte Julie in der Zeitschrift „Der Israelit“ einen Artikel über den jüdischen Trauertag Tischa be-Aw veröffentlicht. An diesem Tag hatte ihre Mutter stets unter Tränen an die Zerstörung des Tempels in Jerusalem und die Vertreibung der Juden aus Spanien erinnert. Julie und andere Kinder hatten verständnislos zugehört.
„Wir sahen verlegen vor uns hin,“ schrieb sie in ihrem Artikel. „Wir konnten diesen Schmerz im Letzten nicht verstehen. Warum immer noch einem verlorenen Land nachweinen, wenn man doch in einem so schönen anderen leben darf, in dem es uns gut ergeht und das wir von ganzem Herzen lieben!“
Jüdische Familiengeschichten
Buch: Die hier verwendeten Texte und Bilder stammen aus Roland Flades neuem Buch „Jüdische Familiengeschichten aus Unterfranken“, 304 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 14,95 Euro.
Autor: Der langjährige Main-Post-Redakteur Roland Flade ist promovierter Historiker und Autor zahlreicher Bücher zur Würzburger und unterfränkischen Geschichte.
Präsentation: Das Buch wird am Montag, 12. Oktober, um 19 Uhr in einer Veranstaltung im jüdischen Kultur- und Gemeindezentrum „Shalom Europa“ in Würzburg, Valentin-Becker-Straße 11, vorgestellt. Der Eintritt ist frei.